Greife nie in ein fallendes Messer
mehr so vornehmen Finanzgewerbe. Danach müsste es bis zum Spätherbst beziehungsweise Winter zu fallenden Kursen kommen, die dann Ende des Jahres durch den Beginn eines neuen Aufwärtstrends aufgefangen und bei geringen Umsätzen in eine Jahresendrallye münden könnten. Die Umstellung auf den Euro war geeignet, diese Entwicklung in die ersten Tage des neuen Jahres zu verschieben.
Meine Ratschläge in der Telebörse zielten ab Mitte Juni in diese Richtung, stießen aber, wie gesagt, auf zunehmendes Unverständnis, zumal der DAX, scheinbar unbeirrt, seine Rekordjagd fortsetzte. Erst bei einem Stand von ungefähr 6 200 war es schlagartig vorbei mit der Herrlichkeit, und die Talfahrt begann.
Doch trotz des Kurseinbruchs Ende Juli bemerkte ich auch in den folgenden Wochen nicht die geringsten Anzeichen für Panikverkäufe der Kleinanleger. Als Beweis hierfür konnte ich immer wieder auf den Kurs der Deutschen Telekom verweisen, der sich seit deren Börsengang Ende November 1996, als er bei 28,50 D-Mark gelegen hatte, zu einem hervorragenden Barometer für das Verhalten der deutschen Kleinanleger gemausert hatte. Von einem Kursniveau um die 32 D-Mark aus in das Börsenjahr 1998 eingetreten, hatte sich der Preis der Aktie während der ersten Jahreshälfte bis auf über 55 D-Mark nach oben gearbeitet, nach dem Juli-Einbruch fiel er gelegentlich in Richtung 40 D-Mark zurück, konnte sich aber im Grunde auf seinem erfreulichen Niveau von knapp 50 D-Mark behaupten. Weder die Asienkrise, noch die Ungewissheit um den künftigen Kurs in Russland und schon gar nicht die unappetitlichen Einzelheiten in der Clinton-Lewinsky-Affaire konnten einen Keil zwischen die T-Aktie und ihre deutschen Anleger treiben. Die Begeisterung der Kleinanleger für die Telekom-Aktie dürfte wohl auch den |222| Neuen Markt mit in den siebten Börsenhimmel getragen haben. Und zusammen mit all den Internet- und Technologiewerten am Neuen Markt taumelten im Frühjahr 2000 die Aktien der Deutschen Telekom auf den Abgrund zu, und die Kleinanleger erwachten mit einem grässlichen Kater aus ihrem Rausch.
Erst als zum Jahresende 1998 der Konkurrenzkampf um den Telefonkunden in einen wilden Preiskampf umschlug, begannen allerdings etliche Anleger, ihr langfristiges Engagement in Telekom-Aktien zu überdenken, häuften sich die Abgaben. Eine verständliche und meines Erachtens richtige Reaktion, denn durch sinkende Tarife für Telefongespräche würden zwar vielleicht einige Telefonkunden länger telefonieren, ganz bestimmt würde dies aber nicht die Einnahmeeinbußen ausgleichen können, die durch die Absenkungen der Tarife entstehen. Der Preiswettbewerb um den einzelnen Kunden musste zwangsläufig bei allen Anbietern zu sinkenden Gewinnen führen, das konnten auch zusätzlich gewonnene, neue Kunden nicht verhindern.
Die Kleinanleger hatten offensichtlich ihre Lektionen gelernt und die Reifeprüfung bestanden. Denn in den turbulenten Herbsttagen zeigten sie sich gelassener und ruhiger als die Profis. Fondsmanager, die vorauseilend bereits für Liquiditätsreserven gesorgt hatten, um die zu erwartenden Rückflüsse der Anteile auffangen zu können, berichteten mir später, dass es diese Rückflüsse kaum gegeben habe, die Anleger seien ganz einfach auf ihren Beständen sitzen geblieben.
Unter langfristigen Gesichtspunkten war dies meines Erachtens auch gar nicht so verkehrt. Denn auf lange Sicht würde sich die weltweite Zinslandschaft wohl kaum grundlegend verändern, würden festverzinsliche Wertpapiere nur sehr dürftige Renditen abwerfen und damit unattraktiv bleiben.
Auch die überraschend starken Käufe auf den Kapitalmärkten in den USA und in Deutschland im Herbst 1998 widerlegten diese Annahme nicht. Sie wurden an der Börse vor allem als Flucht spekulativer Anleger aus den hochverzinslichen, weil stark gefährdeten Anlagen in Mittel- und Osteuropa, in Südostasien und Südamerika in die sicheren Anlagehäfen dieser Welt interpretiert. Bei normalen Windstärken |223| würden diese Fluchtgelder auch wieder hinaussegeln auf die hohe See. Dadurch könne es zwar wieder zu sinkenden Kursen, also zu leichten Renditeerhöhungen auf dem amerikanischen und deutschen Kapitalmarkt kommen, dennoch werde das Zinsniveau weltweit auf einem sehr niedrigen Stand verharren. Wie sollte es auch anders sein, angesichts der befürchteten Konjunkturdellen in naher Zukunft, der niedrigen Rohstoffpreise und der offen zutage tretenden Globalisierungseffekte, die
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