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Greife nie in ein fallendes Messer

Greife nie in ein fallendes Messer

Titel: Greife nie in ein fallendes Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedhelm Busch
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wären dann die logische Reaktion aus dem Gewerkschaftslager, steigende Zinsen die Antwort der kommenden Europäischen Zentralbank, die auftragsgemäß die Stabilität des Euro verteidigen würde. Die internationale Finanzwelt würde ihr zögernd aufgebautes Vertrauen in einen stabilen Euro wieder verlieren, die Hoffnungen auf einen Konjunkturaufschwung im kommenden Euroland würden zerfasern. Alte und neue Ängste wurden an der Börse wohlfeil herumgereicht, der Pessimismus war mit den Händen zu greifen.
    Gleichwohl gab es keine breite, von hohen Umsätzen getragene Abwärtsbewegung. Da die meisten Börsianer, so meine Recherchen auf dem Parkett, ihre Bestände in den letzten Monaten schon eher niedrig gehalten hatten, verfügten sie auch nicht über genügend Material, um einen kräftigen Kursrutsch bei hohen Umsätzen auszulösen. Und nur wenige hatten den Mut, zu »shorten«, also leer zu verkaufen. Wer es dennoch versuchte und dabei für wenige Minuten oder Stunden richtig lag, nutzte sinkende Kurse umgehend zu Eindeckungen, also Rückkäufen aus. Statt weiter zu fallen, zogen die Kurse deshalb sehr schnell wieder an.
    Die Panik der Kleinanleger wollte sich partout nicht einstellen, von den zittrigen Händen der privaten Anleger, die André Kostolany in seiner farbigen Erzählweise als Höhepunkt einer Baisse definiert, war nichts zu spüren. Selbst als im Juli die Aufwärtsbewegung beim großen DAX und auch am Neuen Markt jäh beendet wurde, war dies weniger auf starke Verkäufe als vielmehr auf einen ausgeprägten Käuferstreik zurückzuführen. Im Rahmen des schwachen Geschäfts |218| reichten schon wenige und vor allem kleine Verkaufsaufträge aus, um die Kurse gen Süden, also nach unten zu schicken.
    »Dies ist kein Grund zur Entwarnung«, versicherten mir die Anhänger der Charttechnik, die mit einem Kursrutsch in Richtung 3 000 beim DAX rechneten, »wenn schon geringe Umsätze zu solch starken Kursverlusten führen, was soll dann erst bei hohen Umsätzen geschehen?« Diese Frage mag berechtigt sein, doch im Sommer 1998 gab es halt keine hohen Umsätze, trotz der sinkenden Kurse.
    Der deutsche private Anleger erwies sich, allen Vermutungen zum Trotz, als besonnener Aktionär, der offenkundig sein Aktienengagement als langfristige Investition verstand, die man nicht gleich bei jedem widrigen Wind aufgeben sollte. Mit dieser Einstellung befand er sich im deutlichen Gegensatz zum Profi, der sich im kurzfristigen Tagesgeschäft einen derartigen langen Atem gar nicht leisten kann. Was manchen aber nicht daran hindert, für sich selber ähnlich langfristig zu agieren. Diese hastige Renditejagd mit ihren ständigen Käufen und Verkäufen kostet den Privatanleger zudem aufs Jahr gesehen neben der Steuer einen erheblichen Betrag an Mindestgebühren und Provisionen. Diesen Gesichtspunkt sollte nicht übersehen, wer sich als Kleinanleger auf das hektische Tagesgeschäft an der Börse einlässt. Aus diesem Grund schockierten mich wenig später die Pläne des neuen Finanzministers der rot-grünen Koalition, Oskar Lafontaine, die Spekulationsfrist bei Aktien von sechs Monaten auf ein Jahr zu verlängern, weniger als die Börsianer auf dem Parkett. Wer künftig seine realisierten Aktiengewinne steuerfrei genießen wollte, musste seine Wertpapiere vor dem Verkauf mindestens ein Jahr besessen haben und nicht wie vorher nur sechs Monate. Da der Bundesbürger einem Ondit zufolge an nichts mehr interessiert sein soll als an der Steuervermeidung, zielte die neue, verlängerte Spekulationsfrist genau in die von mir favorisierte Richtung. Wenigstens ein Vorhaben der neuen Bundesregierung, das meine volle Zustimmung fand, konnte doch mit dieser Regelung die Aktienanlage als Instrument einer langfristigen privaten Vermögensbildung erheblich gestärkt werden. Dass gut zehn Jahre später die Bundesregierung unter einer konservativen Führung beschloss, die Spekulationsfrist |219| gänzlich zu streichen und ab 2009 Aktienkursgewinne einer generellen Abgeltungssteuer von 25 Prozent zu unterwerfen, erscheint mir widersinnig und gefährlich, droht doch jetzt die Aktie stärker als zuvor zu einem Spielball in den Händen von Zockern zu verkommen – ähnlich wie in der Jubelphase des Neuen Marktes.
     
    Überall in Deutschland schien es im Frühsommer 1998 nur noch ein Thema zu geben: die Börse und die Aktie. Nahezu jeder in meinem Freundes- und Bekanntenkreis rechnete mir stolz seine Buchgewinne vor, die er mit einem

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