Greife nie in ein fallendes Messer
Kursausschläge zu verhindern, brauchte sie Stücke, die sie verkaufen konnte. Wenn ihre Reserven aber erschöpft waren, war sie zum Nichtstun verurteilt, es sei denn, sie ging »short«, verkaufte also Stücke, die sie gar nicht besaß, die sie aber nach spätestens zwei Tagen eindecken, also selbst kaufen musste. Damit bestand die Gefahr, durch eigene Käufe zusätzlich Öl ins Kursfeuer zu gießen und damit das zu verstärken, was man eigentlich verhindern wollte. Folglich blieb den Betreuerbanken nichts anderes übrig, als den Kapriolen der Kurse weitgehend passiv zuzuschauen.
Ein anderer Vorschlag, die gewaltigen Kursschwankungen zu |205| verhindern, richtete sich an den zuständigen Freiverkehrsmakler. Er möge doch bei überwiegend unlimitierten Kauf- oder Verkaufsorders nur geschätzte Kurse, also Kurstaxen festsetzen. Die Anleger bekämen damit die Möglichkeit, noch einmal alles zu überdenken. Da aber offenbar viele Anleger ganz bewusst das Risiko eingingen, unter Umständen erheblich mehr für die Aktie bezahlen zu müssen als ursprünglich gedacht, kam diese Blockade des Handels ebenfalls nicht in Betracht.
Doch nicht nur die Kleinanleger hatten Schwierigkeiten, sich auf dem glatten Eis des Neuen Marktes zu bewegen, ohne hin und wieder aufs Gesicht zu fallen. Am 28. Oktober 1998 erlebten einige Freiverkehrsmakler außerhalb der Frankfurter Börse ihr Waterloo.
Auf der Tagesordnung in Frankfurt steht am Neuen Markt die Einführung des Börsenneulings Nr. 52. Die Aktien der Articon Information Systems AG sollen zum ersten Mal an der Börse gehandelt werden. Um 8:30 Uhr beginnt Freiverkehrsmakler Michael Wilhelm, die Auftragslage zu sichten. Im inoffiziellen »grauen Handel« haben wir schon am Tag zuvor von einem Kurs von ungefähr 100 D-Mark gehört, bei einem Emissionspreis von 58 D-Mark deutet sich also ein erfreulicher Kursgewinn für die Erstzeichner an. Da aber das gesamte Börsenumfeld eher lustlos wirkt, ahnt keiner auf dem Parkett, zu welchen Absurditäten der Neue Markt fähig sein kann.
Freiverkehrsmakler Wilhelm spricht in aller Ruhe mit dem Vertreter der Bank, die die Emission bei ihrer Premiere in Frankfurt begleitet. Die Orderlage wird geprüft, der Mitarbeiter der Betreuerbank telefoniert mit seinem Büro, Händler und Makler vom Parkett schlendern vorbei, fragen nach dem ersten Kurs. Der wird sich offenbar an den Kursen des »grauen Marktes« orientieren. Die Taxe wird mit 100 zu 120 D-Mark festgesetzt und kurz nach 8:30 Uhr auch auf der großen Anzeigetafel in Frankfurt angezeigt.
Plötzlich gibt es vor der Schranke des Frankfurter Maklers Unruhe und Ratlosigkeit. Ungläubiges Gelächter kommt auf. Über sein Handy hört einer der Börsianer, dass Düsseldorf bereits einen offiziellen Kurs für die neue Articon meldet. Dort wird im Freiverkehr für die Articon ein Preis von 280 D-Mark gezahlt. Berlin folgt |206| mit 250 D-Mark, schon 30 D-Mark weniger als in Düsseldorf, aber immer noch deutlich über den Frankfurter Schätzungen. Die Betreuerbank, der zuständige Freiverkehrsmakler, die Frankfurter Börsianer, sie alle sehen den Kurs höchstens bei 120 D-Mark. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Von anderen Regionalbörsen kommen ebenfalls Kurse, die deutlich über 200 D-Mark liegen. Wie viele Stücke werden eigentlich zu diesen Kursen außerhalb Frankfurts gehandelt? Und wer kauft da? Noch spannender ist die Frage, woher die Stücke kommen. Das können doch im Grunde genommen nur Leerverkäufe sein, denn schließlich hat der offizielle Handel ja noch gar nicht begonnen! Die in Düsseldorf müssen verrückt sein!
Der Kurs in Berlin ist schon eher nachvollziehbar. Wer in Düsseldorf leer zu 280 D-Mark verkauft hat, kann sich in Berlin mit ruhigem Gewissen zu 250 D-Mark die Stücke besorgen, die er den Düsseldorfer Käufern liefern muss. Es bleibt ihm ein schöner Gewinn von ungefähr 30 D-Mark. Hoffentlich ist es nicht der Düsseldorfer Freiverkehrsmakler selber! Das würde der gesamten Aktienkultur in Deutschland einen Bärendienst erweisen und Wasser auf die Mühlen derer leiten, die schon immer vor dieser »Zockerbörse« gewarnt haben.
In Frankfurt schauen sich derweilen Handelsaufsicht, Freiverkehrsmakler und Betreuerbank die Kauf- und Verkaufsaufträge an … und setzen den ersten Kurs bei 120 D-Mark fest, wie vorher auch durch den Taxkurs angedeutet worden ist. Jetzt liegt der Ball im Feld der Düsseldorfer, die vor dem ersten offiziellen Kurs in Frankfurt offenbar
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