Grenzen setzen – Grenzen achten
abgeschwächter Weise wohl alle. Auch wir haben den Eindruck, dass die Gedanken anderer in uns eindringen, dass wir infiziert sind von den Gedanken, die unsere Gesellschaft prägen. Manchmal ertappen wir uns dabei, dass wir nicht mehr die eigenen Gedanken denken, sondern übernehmen, was uns von überall her entgegenströmt. Wenn wir in eine Gruppe kommen, verlieren wir das Gefühl für die eigene Identität. Unbewusst passen wir uns der Umgebung an. Im Reden übernehmen wir die Sprache der anderen. Wir tauchen in ihre Stimmung ein und vergessen, was wir selbst wirklich fühlen.
Grenzenlose Menschen haben es in unserer reizüberfluteten Gesellschaft schwer. Über die Medien überschreiten Ereignisse aus fremden Ländern ständig die Grenze ihres Hauses und ihres Herzens. Schreckensmeldungen aus den Kriegsgebieten und den Krisenregionen dieser Welt strömen auf sie ein und machen es ihnen schwer, ihr eigenes Leben zu leben. Sie werden bestimmt von dem, was sie im Fernsehen miterlebt haben. So gut es ist, voller Mitleid zu sein mit den geschundenen Menschen auf der Welt: Es kann auch zur Gefahr werden, dass das ganze Elend der Welt in mich einströmt und mich am Leben hindert. In dieser Situation benötigen wir die Fähigkeit, uns abzugrenzen.
Abgrenzen heißt nicht, sich unempfindlich gegen das Leid der Welt zu machen, sondern selbst die Grenze zu bestimmen, wo ich die Not der Menschen in mich einlassen kann und will, und wo ich mich einfach schützen muss, um in dieser Welt als Mensch leben zu können. Ein guter Weg, sich abzugrenzen, ohne sich gegenüber dem Leid der Welt zu verschließen, ist, für die Menschen zu beten, von deren Elend die Medien berichten.Wenn ich für sie bete, fühle ich mit den Menschen, aber ich sauge mich nicht mit ihrem Leid voll. Ich gebe es vielmehr weiter an Gott, in der Hoffnung, dass er diese Menschen nicht allein lässt. Ein anderer Weg ist, sich an einem konkreten Projekt zu beteiligen, das diesen Menschen hilft, oder es finanziell zu unterstützen. Aber wir müssen sehen: Auch in der konkreten Hilfe sind uns Grenzen gesetzt. Wir können uns nicht täglich für die vielen Opfer von Gewalt und Naturkatastrophen engagieren, die uns das Fernsehen vor Augen führt.
9. Die eigene Grenze nicht mehr spüren
Von Sucht und seelischer Krankheit
Maßlosigkeit als Gefährdung
Sucht ist nicht erst eine Krankheit unserer Tage. Denn Maßlosigkeit ist eine immerwährende Gefährdung des Menschen. Im Lukasevangelium erzählt Jesus das Beispiel von dem reichen Mann, der auf seinen Feldern eine gute Ernte erwartete. Er überlegte hin und her: „Was soll ich tun? Ich weiß nicht, wo ich meine Ernte unterbringen soll.“ Schließlich sagte er: „So will ich es machen. Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann kann ich zu mir selber sagen: ,Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink, und freu dich des Lebens.’ (Lk 12,17–19) In solchen Selbstgesprächen formuliert Lukas unsere eigenen Gedanken. Wenn wir Erfolg haben, meinen wir, wir müssten ihn noch vergrößern. Der reiche Mann steht für die Menschen, die kein Maß haben, die nie genug bekommen können. Letztlich ist es eine Sucht, die den Mann antreibt, seine alten Scheunen abzureißen, um größere zu bauen. Jesus lässt Gott zum reichen Mann sprechen: „Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wird dann all das gehören, was du angehäuft hast?“ (Lk 12,20) Der Mann meinte, er könne sein Vermögen grenzenlos vermehren und sich dann endlich des Lebens freuen.
Der Mann steht für die Krankheit der Sucht. Süchtige Menschen haben kein Maß. Sie betrinken sich maßlos. Sobald sie anfangenzu trinken, verlieren sie das Gefühl für ihre Grenze. Eine Frau, die an Bulimie litt, erzählte, dass sie beim Essen kein Gespür mehr für eine Grenze hatte. Sie musste einfach immer weiter essen. Es blieb nicht bei der Esssucht. Diese Grenzenlosigkeit im Essen zeigte sich auch in der Unfähigkeit, sich anderen gegenüber abzugrenzen. Sucht ist nach einer Einsicht des Psychologen Theodor Bovet Mutterersatz. Der Süchtige bleibt auf der Stufe des Kindes stehen. Er möchte nicht ausbrechen aus dem Nest, aus dem Schlaraffenland, in dem er alles haben kann, was er möchte. Das Wesen der Sucht besteht in der Maßlosigkeit und in der Unfähigkeit, aufzuhören. Daher kann alles zur Sucht
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