Grenzen setzen – Grenzen achten
wieder einen psychotischen Schub erleiden. Seine Krankheit besteht gerade darin, seine eigene Grenze nicht zu kennen. Er kann den Kontakt zu anderen nur eine Zeit lang aufrechterhalten. Dann gleitet er innerlich ab. Er selber merkt nicht, wann es ihm nicht mehr gut tut, weiterhin mit den Menschen zusammen zu sein. Er hat kein Gespür dafür, wann ihm Alleinsein gut täte.
Solche Grenzenlosigkeit ist auch ein typisches Kennzeichen der Manie. Wenn manisch-depressive Menschen in ihre manische Phase kommen, verlieren sie jedes Augenmaß. Da bestellen sie bei Firmen Unmengen von Material, das sie nie brauchen und auch gar nicht bezahlen können. Sie arbeiten ohne Maß. Sie brauchen keinen Schlaf mehr. Sie sind hellwach und meinen, sie könnten rund um die Uhr arbeiten. Solche manischen Menschen können ihre Umgebung in Schrecken versetzen. Man muss immer damit rechnen, dass sie irgendetwas tun, was sie in schlimme Bedrängnis bringt. Doch sie meinen, alles im Griff zu haben. Manchmal zeigt sich die Manie auch in einem grenzenlosen Redeschwall. Man hat den Eindruck, dass sie reden, ohne Atem holen zu müssen. Auf jeden Fall hat man keine Chance, selber etwas zu sagen. Sie reden ununterbrochen und lassen keinen anderen zu Wort kommen.
In die Begleitung kommen manchmal solche grenzenlose Menschen. Sie haben kein Gespür für die Situation in einem Begleitungsgespräch. Nachdem sie über sich in einem endlosen Monolog erzählt haben, wechseln sie auf einmal die Rolle und spielen den Therapeuten für den Begleiter. Sie fragen ihn, wie es ihm denn gehe. Er würde so blass aussehen. Oder sie kommen ihm körperlich zu nahe. Sie überschreiten seine Grenze. Für den Begleiter sind solche Gespräche sehr unangenehm. Grenzenlose Menschen provozieren, dass wir unsere Grenze besonders achtsam hüten. Sonst haben wir den Eindruck, uns selbst zu verlieren. Aber es braucht oft viel Energie, gegenüber grenzenlosen Menschen die eigene Grenze zu verteidigen. Begleiter lassen sich vom Redeschwall des anderen überschütten und sehen keine Möglichkeit, auf ihre eigene begrenzte Zeit hinzuweisen. Sie ärgern sich, dass sie länger mit dem Klienten gesprochen haben, als es ihnen gut tut. Manche Menschen bringen es fertig, immer dann, wenn der Begleiter das Gespräch beenden will, mit den eigentlich wichtigen Problemen anzufangen. Das Gespräch hat sich eher träge dahingeschleppt. Doch sobald sie wahrnehmen, dass die Gesprächszeit zu Ende ist, beginnen sie, bitter zu weinen und machen es dem Begleiter fast unmöglich, die Stunde zu beenden. Es braucht ein gutes Gespür für die eigene Grenze, um konsequent zu bleiben und über die eigene Zeitgrenze zu wachen.
Dass heute das gesunde Gespür für die eigenen Grenzen bei vielen verloren gegangen ist und dass dieser Verlust nicht nur bei kranken Menschen auftritt, sondern ein gesellschaftliches Problem ist, zeigt der Erfolg vieler Talkshows im Fernsehen, in denen Menschen vor einem Millionenpublikum Persönlichstes zur Schau stellen. Intimität wird öffentlich vorgeführt, in immer wieder neuen Folgen, nach einem suchtähnlichen Wiederholungsmuster. Die Moderatoren locken aus ihren Gästenmöglichst viel Privates hervor. Das Private ist – schon nach der Wortbedeutung – eigentlich das Abgesonderte, das für sich Stehende, das Abgegrenzte. Wenn die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem aber aufgehoben sind, werden Zuschauer zu lustvollen Voyeuren, die ihre Sucht nach immer neuen Intimitäten fremder Menschen befriedigen müssen, weil sie zu einer eigenen kultivierten Intimität immer weniger fähig sind. Solche Grenzenlosigkeit tut weder dem Zuschauer noch den Akteuren gut. Sie ist ein Zeichen für die Krankheit unserer Zeit.
10. Die eigenen Grenzen eingestehen
Von Verdrängung und Ehrlichkeit
Falsche Idealbilder
Es ist immer ein schmerzlicher Prozess, die eigene Begrenztheit zu erkennen und seine Grenzen auch vor sich selber einzugestehen. In aller Regel meinen wir, wir könnten immer noch mehr: Wir könnten genauso viel arbeiten wie unser Arbeitskollege oder Freund. Wir bräuchten genauso wenig Schlaf wie der oder jener. Wir wollen unsere Grenzen nicht gerne zugeben. Denn dann kämen wir uns möglicherweise anderen gegenüber minderwertig vor. Wir müssten zugeben, dass unsere physischen und psychischen Ressourcen begrenzt sind, dass unsere Belastbarkeit im Beruf und im privaten Leben nicht unendlich ist, dass wir uns nicht jedem Konflikt stellen können. Und wir müssten uns
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