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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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Menschen, die keine Grenze mehr haben. Auch im Evangelium begegnen wir Geschichten, die davon erzählen. Johannes schildert uns im 5. Kapitel seines Evangeliums die Heilung eines Mannes, der schon 38 Jahre lang krank war. Die Zahl 38 bezieht sich auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die Israeliten waren eigentlich schon nach zwei Jahren an der Grenze zum Gelobten Land angekommen. Doch weil sie gegen Gott rebellierten, mussten sie zur Strafe noch 38 Jahre lang durch die Wüste ziehen, „bis alle waffenfähigen Männer gestorben waren.“ (vgl. Dtn 2,14) Der Mensch, der 38 Jahre lang krank ist, hat also keine Waffen mehr. Er kann sich nicht mehr wehren. Seine Krankheit besteht darin, dass er sich nicht mehr abzugrenzen vermag. Er steht für Menschen, die keine Grenze mehr haben. Auf diese Weise bezieht er alles Negative aus seiner Umgebung auf sich, zieht es sozusagen in sich hinein und infiziert sich mit allem Kränkenden um sich herum. Wir begegnen immer wieder Menschen, die alles sofort auf sich beziehen. Wenn jemand lacht, dann denken sie, er würde über sie lachen. Wenn jemand traurig dreinschaut, suchen sie sofort bei sich die Schuld und fragen sich, was sie verkehrt gemacht hätten. Wenn sie in der Straßenbahn zwei Jugendliche sehen, die sich miteinander unterhalten, haben sie den Eindruck, die würden über sie reden. Solche Menschen sind nie bei sich selbst, sondern immer bei den anderen. Wer alle Äußerungen der anderen auf sich bezieht und die Gefühle und Stimmungen der anderen in sichaufnimmt, weiß gar nicht mehr, wer er selbst ist, und wo er steht. Diese Menschen schwimmen und haben ihren Stand verloren. Wenn etwas in einer Gruppe schief gelaufen ist, klagen sie sich selbst an. Wenn jemand über etwas schimpft, fragen sie sich sofort, ob das gegen sie gerichtet ist, ob sie etwas verkehrt gemacht hätten.
Gefährdung durch Vermischung
    In der Therapie spricht man von „konfluenten“ Menschen. Das lateinische „confluere“ heißt „zusammenfließen“. Wenn zwei Flüsse zusammenfließen, sieht man keine Grenze mehr zwischen ihnen. Ihr Wasser vermischt sich. Es gibt auch konfluente Begleiter. Sie nehmen die Gefühle des anderen in sich hinein. Sie haben keine Distanz zu dem, was den Klienten bewegt. Damit aber können sie nicht wirklich begleiten. Denn sie vermögen den anderen nicht zu konfrontieren oder ihm seine Gefühle zu spiegeln. Sie sind im anderen und vermischen sich mit ihm. Das führt zu Unklarheit und Abhängigkeit. Man klebt aneinander, aber man kann sich nicht mehr unterstützen und helfen. Der Begleiter schenkt grenzenlose Zuwendung, weil er sie selbst so maßlos braucht. Aber auf diese Weise hilft er nicht, sondern saugt die aus, die er begleiten und denen er helfen sollte. Er braucht die Begleitung letztlich für sich selbst. Das macht ihn blind für die Bedürfnisse und Grenzen der anderen.

    Solche konfluenten Menschen gibt es auch in Familien. Da lebt der Sohn oder die Tochter nicht ihr eigenes Leben, sondern sie vermischen sich mit dem Vater oder der Mutter. Die Gedanken der Mutter sind auch in der Tochter oder im Sohn und umgekehrt. Wenn der Sohn oder die Tochter eine Entscheidung treffen sollen, vermögen sie ihre eigene innere Stimme nicht mehrzu unterscheiden von der Stimme des Vaters. Sie denken wie der Vater. Es gibt keine Grenzen mehr zwischen ihnen und dem Vater. In einer konfluenten Familie gibt es ein inneres Durcheinander. Durch die Vermischung der Emotionen entsteht ein Emotionsbrei. Die Konsequenz: Keiner findet seinen eigenen Stand. Jeder ist von den Emotionen des anderen durchdrungen. Alles fließt zusammen zu einem undurchsichtigen Chaos.

    Emotionsbrei gibt es auch in Gruppen, vor allem in Firmen. Mitarbeiter können sich nicht abgrenzen oder haben keine Grenzen. Sie verschwimmen mit den Gefühlen und Stimmungen der anderen. Es ist gefährlich, in so einen Emotionsbrei verwickelt zu werden. Man spürt dann keinen Boden mehr. Man kennt sich nicht mehr aus. Man weiß nicht mehr, wo man selbst anfängt und aufhört, wer man selbst eigentlich ist. Ich bin nicht mehr frei zu denken und zu entscheiden, wenn die Emotionen der anderen an mir kleben. Ich weiß zuletzt gar nicht mehr, was meine eigenen Gedanken sind, und wo meine eigenen Empfindungen durch das Klima um mich herum infiziert sind.
    Nicht nur die Emotionen des anderen fließen in mich ein, sondern auch seine Schattenseiten. Und die sind noch gefährlicher. Denn ich nehme sie gar nicht bewusst wahr.

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