Grenzen setzen – Grenzen achten
Ich weiß nicht, warum ich so depressiv oder aggressiv bin. Die verdrängte Aggression des Abteilungsleiters legt sich auf meine Seele, ohne dass ich es wahrnehme. Der Chef ist nach außen hin vielleicht freundlich. Doch seine verdrängte Aggression macht mich aggressiv. Er verhält sich äußerlich korrekt, aber durch sein Verhalten hindurch dringen seine Selbstablehnung oder gar seine Menschenverachtung subtil in mich ein. Oft wissen wir nicht, warum wir uns in einer Abteilung unwohl fühlen, ausgelaugt, erschöpft, aggressiv oder depressiv. In einer solchen Situation gilt: Wir müssen zuerst einmal erkennen, was aus der Umgebung in uns einströmt. Dann geht es darum, eine klare Grenze gegenüberden Einflüssen von außen zu ziehen. Ein Weg, sich von den Emotionen und Schattenseiten der anderen abzugrenzen, besteht darin, gut mit sich in Berührung zu sein. Wenn ich mich spüre und bei mir bin, dann lasse ich die Stimmungen des anderen nicht so leicht in mich eindringen. Manchmal hilft es schon, in Gesprächen die Hand aufs Herz zu legen, um sich innerlich daran zu erinnern: „In mein Herz lasse ich die negativen Emotionen des anderen nicht hinein. Sie sind sein Problem. Ich lasse sie bei ihm. Ich schütze mein Herz vor der Destruktivität des anderen. Ich bin bei mir.“
Die innere Quelle
Ein Blick auf die erwähnte Heilungsgeschichte Jesu aus dem Johannesevangelium zeigt uns wieder, wie wir mit solchen Situationen heilsam umgehen können. Jesus heilt den Mann ohne Grenzen. Er tut dies nicht, indem er in Mitleid zerfließt oder ihn bedauert. Bei vielen anderen Krankenheilungen heißt es, dass Jesus Mitleid empfindet. Im Mitleid öffnet er sich dem anderen und lässt ihn in sich hinein. Bei manchen ist das notwendig, um mit ihren Herzen in Kontakt zu kommen. Doch gegenüber einem grenzenlosen Menschen wäre diese Öffnung tödlich. Da ist eine konfrontierende Therapiemethode hilfreicher. Jesus fordert diesen Kranken heraus, indem er ihn nach seinem eigenen Willen fragt: „Willst du gesund werden?“ (Joh 5,6) Der Kranke muss selbst seine Heilung wollen. Er darf sie nicht an den Therapeuten oder Seelsorger delegieren. Der Kranke erzählt Jesus seine Lebensgeschichte. Er erklärt ihm, warum er krank ist. Der Grund seiner Krankheit besteht darin, dass er keinen Menschen hat, der ihm hilft. Er ist zu kurz gekommen. Die anderen haben es besser als er. Jesus geht auf diese Erklärungen des Kranken nicht ein. Er vermittelt ihm nicht, wie sehr er ihnversteht, sondern konfrontiert ihn mit einem eindeutigen Befehl: „Steh auf, nimm deine Bahre und geh!“ (Joh 5,8) Diesem Mann hilft Mitleid nicht. Denn das würde ihn einladen, sich selbst zu bedauern und die eigene Unklarheit zu vertiefen. Jesus bringt ihn in Berührung mit der Kraft, die trotz seiner Krankheit in ihm steckt. Er traut ihm zu, dass er aufstehen und sich auf die eigenen Füße stellen kann. So befiehlt er ihm. Die Bahre als Zeichen der eigenen Unsicherheit und Krankheit soll er nicht einfach wegwerfen, sondern unter den Arm nehmen. Die Krankheit, die Schwäche, die Hemmungen sollen ihn nicht mehr vom Leben abhalten. Er soll vielmehr anders mit seinen Blockaden umgehen, spielerisch, indem er die Bahre spazieren trägt. Er darf gehemmt und unsicher sein. Aber sich trotzdem den Leuten zumuten. Er soll mit seinen Hemmungen auf die Menschen zugehen, anstatt sich von ihnen vom Leben abhalten zu lassen. Das gelingt ihm nur, wenn er sich von den Menschen abgrenzt, indem er die Gedanken und etwaigen Urteile der Menschen nicht in sich einlässt, sondern aus sich heraus lebt und nicht mehr aus den anderen. Jesus braucht den Kranken nicht ins Wasser zu heben, damit er gesund werde. Vielmehr bringt er ihn in Berührung mit dessen innerer Quelle, die immer in ihm selbst sprudelt.
Überflutet vom Fremden
Grenzenlosigkeit ist oft Zeichen einer psychischen Erkrankung. Bei psychotischen Menschen nimmt die Unfähigkeit, sich abzugrenzen, oft bizarre Formen an. Das steigert sich bis zum Verfolgungswahn. Ein junger Mann erzählte, sogar sein Urin sei von den Menschen einer Sekte beeinflusst. Er könne in seinem Zimmer nicht mehr sicher sein. Die Leute aus dieser Sekte würden seine Gedanken aus der Ferne manipulieren. ImVerfolgungswahn meint man, das eigene Telefon würde abgehört, oder andere würden in die Wohnung eindringen, trotz Sicherheitsschloss und Alarmanlage. Was uns die Krankheit in ihrer hochgradigen Form so drastisch vor Augen führt, kennen wir in
Weitere Kostenlose Bücher