Grenzen setzen – Grenzen achten
meines eigenen Ichs. In einer solchen Haltung macht Jellouschek auch einen Grund dafür aus, warum viele Ehen scheitern. Partner wollen den anderen in sich hineinnehmen. Sie achten nicht das, was im anderen meinem Zugriff entzogen ist. Im anderen ist ein Raum, zu dem ich keinen Zutritt habe. Man könnte auf dem Hintergrund der Begegnung zwischen Jesus und Maria von Magdala sagen: Im anderen gibt es ein Geheimnis, das ihn und mich übersteigt. Und nur wenn ich dieses Geheimnis achte, wird die Beziehung gelingen. Wenn ich den anderen zu meiner eigenen Selbstverwirklichung brauche, werde ich ständig enttäuscht sein. Hans Jellouschek setzt gegen diese Tendenz, den Partner für mich zu benutzen, etwas anderes: die Fähigkeit zur Hingabe. Viele haben heute Angst, sich hinzugeben. Sie meinen, sie würden sich dann aufgeben. Aber Hingabe als Überschreiten meiner Grenze ist die Voraussetzung, dass ich wirklich in Beziehung komme zum anderen, dass ich mit ihm eins werde.
Aus der Erfahrung in der Paarberatung sehen wir noch einen anderen Weg, wie die Beziehung gelingen kann. Jellouschekspricht davon, dass das Paar eine ausgeglichene Balance zwischen Ich und Wir, zwischen Autonomie und Bindung und zwischen Geben und Nehmen entwickeln muss. Wer alles alleine machen will, grenzt sich vom anderen so stark ab, dass kein Wir-Raum entstehen kann, der für eine Partnerschaft notwendig ist. Auch das Geben und Nehmen sollte in einer Beziehung ausgeglichen sein. Wenn einer immer nur der Gebende ist, fühlt er sich irgendwann ausgenutzt. Und der Nehmende wird zunehmend passiver und einfallsloser. Nur wenn beide geben und nehmen, entsteht ein Miteinander, das nicht einengt, sondern befruchtet.
Peter Schellenbaum spricht vom „Nein in der Liebe“, von der „Aggression zwischen Liebenden“. Eine gesunde Beziehung braucht auch die Aggression als abgrenzende und gleichzeitig zupackende Kraft, um lebendig zu bleiben. Wenn ich meine Grenzen auf eine gute Weise verteidige, dann weiß der andere, woran er ist. Dann wird er meine Grenzen respektieren und fühlt sich auch in seinen eigenen Grenzen ernst genommen. Nur wenn zwei Partner sich in diesem Sinne klar definieren, können sie gut miteinander umgehen, dann können sie einander besuchen. Sie werden die Grenzen in der Liebe oft aufheben, um miteinander zu verschmelzen. Aber dann setzen sie die Grenzen wieder, um miteinander kommunizieren zu können.
Vom Mut der Klarheit
Henri Nouwen erzählt in dem Buch „Ich hörte auf die Stille“ von einem mehrmonatigen Aufenthalt im Trappistenkloster Gennessee. Er berichtet von seinen Gesprächen mit dem Abt dieses Klosters. Nouwen sucht in diesen Gesprächen eine Lösung dafür, wie er sich besser abgrenzen kann, sobald er wiederdaheim ist und seiner gewohnten Arbeit nachgeht. Der Abt rät ihm, klare Zeiten für sich zu reservieren, die nur ihm und Gott gehören. Und er meint, diese klaren Zeiten würden auch Klarheit in die Beziehungen zu seinen Freunden bringen. Wenn er sich dazu entschließt, feste Zeiten für seine Meditation einzuhalten, würden ihn seine Freunde darin unterstützen: „Ich würde bald entdecken, dass alle, die sich von diesem Lebensstil angesprochen fühlten, an ihm teilhaben wollten. Mit anderen Worten: ein klarer, offenkundiger und genau umrissener Lebensstil würde mir die Möglichkeit geben, bessere Beziehungen zu den Menschen anzuknüpfen, und er würde mir ein Kriterium an die Hand geben, um beurteilen zu können, mit wem ich ein mehr und mit wem ich ein weniger intensives Vertrauensverhältnis eingehen sollte.“
Wenn der andere weiß, dass ich unerreichbar bin, weil ich meditiere, so wird er meine Grenze respektieren. Aber er wird mich mit einem guten Gewissen dann anrufen, wenn ich wirklich erreichbar bin. Grenzen schaffen Klarheit in der Beziehung und damit Freiheit.
Was Henri Nouwen von den Beziehungen zu seinen Freunden erzählt, gilt auch für das Miteinander in den Familien. Immer wieder hören wir etwa von Leuten, die Angst haben vor dem Weihnachtsfest und den damit verbundenen emotionalen Ansprüchen. Viele fliehen in die Fremde, um dem feiertäglichen Zusammensein in der Familie aus dem Weg zu gehen. Der Grund für diesen Widerstand gegen Weihnachten in der Familie liegt in dem Anspruch, dass man immer zusammen sein müsse. Ein großer Erwartungsdruck lastet auf diesen Tagen im Dezember: Da müsse man alles gemeinsam machen: gemeinsam essen, gemeinsam spielen, gemeinsam in den Gottesdienst gehen. Wenn
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