Grenzen setzen – Grenzen achten
man dann aber sehr lange „zusammenhockt“, ist es kein Wunder, dass die Aggressionen wachsen. Ich brauche auch inder Familie Freiräume, um das Miteinander genießen zu können. Ein Zuviel an Miteinander tut nicht gut. Eine Studentin erzählte: Ihre Mutter war sauer, wenn die Tochter an den Weihnachtstagen einmal allein spazieren gehen wollte. Schon das empfand sie als Aufkündigung der Familiengemeinsamkeit. Wenn sie allerdings in der Familie blieb, hatten sie sich eigentlich gar nicht viel zu sagen. Hauptsache, alle sind zusammen: Eine solche Art von Verpflichtung ist der Tod echter Gemeinschaft.
„Halte mich nicht fest!“
Eine Liebe, die klammert, engt den anderen ein und erstickt allmählich die Liebe. Liebe braucht eine Haltung, die wir in dem klaren Wort Jesu finden: „Halte mich nicht fest!“ Wenn sich jemand festgehalten fühlt, wird er sich gewaltsam loszureißen und zu befreien suchen. Oder er entzieht sich immer mehr der Liebe des anderen. Damit die Liebe lebendig bleibt, braucht es Nähe und Distanz. Es braucht nicht nur Verschmelzen, sondern auch Abgrenzung. Und es braucht das Gefühl für die tiefste Unverfügbarkeit des anderen, die Anerkennung des Geheimnisses in seiner Person – damit die Liebe atmen kann, damit sie Heimat bleibt und nicht ein Gefängnis wird.
Eine junge Frau erzählte, dass sie sich in ihrer Ehe wie eingekerkert fühle. Wenn sie allein etwas unternehmen möchte, will ihr Mann genau wissen, was sie tut. Er wacht eifersüchtig darüber, dass sie ja nichts tut oder denkt, wozu er keinen Zugang hat. Es ist offensichtlich die Angst, sie könne selbständig denken und Schritte tun, die sie in eine Freiheit führen, über die er keine Gewalt mehr hat. Eine andere Frau berichtet, dass sie ihrem Mann nach ihrer Einzeltherapie alles erzählen muss, was in der Stunde abgelaufen ist. Offensichtlich hat er Angst, sie könnte etwas von ihm und über ihn erzählen. Der Mann gönnt ihr nichteinmal den Privatraum der Therapie. Solch ein Gefängnis hält nach aller Erfahrung nicht lange. Entweder wird die Partnerschaft zur Hölle oder einer von beiden wird mit Gewalt ausbrechen oder sich der Ehe durch Krankheit entziehen. Wenn die Betroffenen das vermeiden wollen, hilft nur eines: Sie müssen ihr Beziehung neu gestalten, so dass Vertrauen und Freiheit Raum gewinnen.
14. Grenzen überschreiten
Von Herausforderungen und vom Mut
Ein Vorbild innerer Freiheit
Grenzen sind nie etwas Absolutes. Sie können auch in positivem Sinn zur Herausforderung werden. Wieder können wir am Beispiel Jesu sehen, was gemeint ist: Er überschreitet in seinem Leben immer wieder Grenzen. Lukas beschreibt ihn als den göttlichen Wanderer, der vom Himmel auf die Erde herabsteigt, um mit uns Menschen zu wandern und uns an den göttlichen Kern zu erinnern. Schon seine Geburt ist von Grenzüberschreitungen geprägt. Sobald Maria schwanger ist, verlässt sie ihr Haus und geht über das Gebirge zu Elisabeth. Maria und Joseph müssen auswandern aus ihrer Heimat, um sich in Bethlehem in die Steuerlisten eintragen zu lassen. Auf der Wanderschaft wird Jesus geboren. Die Flucht führt ihn nach Ägypten. Und er wird zeit seines Lebens ein Wanderer sein, der immer wieder soziale und religiöse Grenzen überschreitet: die Grenze zu den von den Juden verachteten Samaritern, die Grenze zu den Sündern und Zöllnern und die Grenze zu den Heiden. Und schließlich wird er über die Grenze des Todes in das grenzenlose Leben der Auferstehung schreiten.
Durchgängig können wir feststellen: Jesus lässt sich seine Wege nicht von außen bestimmen. Auch nicht von den Warnungen der Pharisäer: „Geh weg, verlass dieses Gebiet, denn Herodes will dich töten.“ (Lk 13,31) Jesus lässt sich vom feindlichen König Herodes keine Grenzen setzen. Er geht seinen eigenen Weg und verfolgt seinen Auftrag. So antwortet er den Pharisäern:„Geht und sagt diesem Fuchs: Ich treibe Dämonen aus und heile Kranke, heute und morgen, und am dritten Tag werde ich mein Werk vollenden. Doch heute und morgen und am folgenden Tag muss ich weiter wandern; denn ein Prophet darf nirgendwo anders als in Jerusalem umkommen.“ (Lk 13,32f) Jesus lässt sich nicht von Herodes bestimmen. Er nennt ihn einen Fuchs. Der Fuchs ist schlau und verschlagen. Aber er ist gegenüber dem mächtigen Löwen ein unbedeutendes Tier. Seine Jünger nennen später Jesus den Löwen von Juda. Er lässt sich vom Fuchs nicht begrenzen. Der Löwe setzt selbst die Grenzen, innerhalb derer
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