Grenzen setzen – Grenzen achten
werden sie fähig, einander zu lieben. Wenn sie nur zusammenhängen,dann sammelt sich die unterdrückte Gewalt und macht irgendwann das Miteinander unmöglich. Es braucht, so Schellenbaum, das Übertreten der Erwartungen des anderen, auch wenn der andere das nicht versteht, auch wenn ich ihm damit Fremdheit zumute: „Das Bewusstsein der Fremdheit schafft die seelische Voraussetzung zur Liebe. Dies ist der Grund, warum die Liebe in vielen Ehen so schnell erstickt: weil ihr der Sauerstoff der Freiheit, Autonomie, Ungewissheit und Einsamkeit ausgeht.“
Das Ziel verfehlen – das Ziel finden
Die Bibel spricht vom Überschreiten und Übertreten von Geboten. Im Lateinischen steht hier: „transgredior“. Das bedeutet: Ich gehe über die Grenze hinaus. Ich überspringe eine Grenze. Das gleiche Wort kann für folgenden Psalmvers genommen werden: „Mit dir überspringe ich Mauern.“ (Ps 18,30) Der Psalmist drückt darin sein Vertrauen aus, dass Gott ihm hilft, über die feindlichen Mauern zu springen und so den Sieg über die Feinde davonzutragen. Gebote zu überspringen kann manchmal befreiend sein. Es kann aber auch in eine Sackgasse führen, aus der ich nicht mehr herauskomme. Ich kann mich auf Dauer nicht im verbotenen Raum aufhalten. Das wäre – um in der Bildsprache der Märchen zu bleiben – für das Marienkind und für die Frau des Ritters Blaubart tödlich. Doch offensichtlich braucht der Mensch die Freiheit, über die Grenze der Gebote zu schauen und auch zu treten, um dann aus der eigenen Erfahrung heraus zu spüren, was für ihn eine angemessene Grenze ist. Die ernsthafte Frage ist ja: Entspricht die Grenze, die ich als Gottes Gebot verstehe, wirklich dem Willen Gottes oder ist sie eher Ausdruck meiner engen Erziehung? Ist sie ein Gebot des Über-Ichs oder ein Gebot Gottes? Um das zu erforschen, muss ich manchmal die Grenze überschreiten. Aber entscheidend ist, dass ich über meineGrenzüberschreitungen sprechen und zu ihnen stehen kann. Nur dann werden sie nicht zu einer Lebenslüge, zu einem inneren Verstummen (wie im Märchen vom Marienkind) oder aber in die Ohnmacht (wie im Märchen vom Ritter Blaubart) führen.
C.G. Jung meint, nur ein höchst naiver und unbewusster Mensch könne „sich einbilden, er sei imstande, der Sünde zu entrinnen“. Auch wenn Jung, ähnlich wie der hl. Paulus, uns nicht dazu ermuntern will, zu sündigen, so gibt es offensichtlich keine Möglichkeit, der Sünde völlig zu entrinnen. Der Sündenfall, wie ihn die Bibel beschrieben hat, wird von vielen Exegeten auch als ein Weg der Bewusstwerdung verstanden. Der Mensch übertritt zwar das Gebot Gottes, gleichzeitig aber gehen ihm in diesem Augenblick die Augen auf. Er erkennt den Unterschied zwischen Gut und Böse. Er wird erwachsen. Wir können nicht im Paradies des Mutterschoßes bleiben, in dem alles undifferenziert eins ist. Wir sollen uns an die Gebote Gottes halten. Denn sie sind wie ein Wegweiser. Dennoch dürfen wir uns auch nicht immer Selbstvorwürfe machen, wenn wir über die Grenzpfähle der Gebote hinausgeschritten sind. Sündigen heißt im Griechischen „hamartanein = verfehlen“. In der Sünde verfehle ich das Ziel. Ich ziele am Richtigen vorbei. Aber das ist offensichtlich notwendig, um das Ziel von neuem zu finden. Sünde als Verfehlung ist ernst zu nehmen. Aber wenn wir die Sünde in diesem Sinne verstehen, wird sie uns nicht ein Leben lang belasten. Vielmehr wird sie aufgehoben von der vergebenden Liebe Gottes, die uns zusagt, dass wir mit allen unseren Versuchen und Irrtümern von Gott angenommen sind und von seiner guten Hand geführt werden, bis wir das Ziel finden.
17. Grenzenloser Friede
Von der großen Sehnsucht und Grabenkämpfen im eigenen Herzen
Eine universale Vorstellung
Frieden ist etwas Universales, Umfassendes. An Weihnachten hören wir die Verheißung des Propheten Jesaja: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt … Seine Herrschaft ist groß, und der Friede hat keine Grenze.“ (Jes 9,5f) Der Friede, der keine Grenzen kennt, entspricht unserer tiefsten Sehnsucht. Wir sehnen uns nach einem Frieden, der weder an die engen Grenzen unserer persönlichen Psyche gebunden ist, noch an die Grenzen des eigenen Landes. Der Friede soll alle Grenzen überschreiten und für die ganze Welt gelten. Lukas hat uns die Geburt Jesu als das Kommen des wahren Friedensbringers beschrieben. Gegenüber dem Friedenskaiser Augustus, der im römischen Reich den Frieden mit Gewalt durchsetzt,
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