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Grenzen setzen – Grenzen achten

Titel: Grenzen setzen – Grenzen achten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anselm Grün/Ramona Robben
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Lebenserfahrung, dass sie immer wieder übertreten bzw. nicht beachtet werden. Der Prophet Jesaja stellt resigniert und zugleich anklagend fest: „Die Erde ist entweiht durch ihre Bewohner; denn sie haben die Weisungen übertreten.“ (Jes 24,5) Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass die Menschen auch Gottes Weisungen immer wieder übertreten. Schon im Paradies hatte Gott Adam und Eva verboten, vom Baum zu essen, der in der Mitte des Gartens stand. Adam und Eva haben sich nicht daran gehalten. Ein Gebot zu übertreten ist wie über eine Grenze zu gehen. Kein Mensch vermag zu leben, ohne einmal über die Grenze von Geboten gegangen zu sein. Der Mensch braucht offensichtlich Gesetze und Weisungen. Sie sind wie ein Zaun, der zwar sein Leben eingrenzt, ihm so aber Sicherheit verschafft. Doch zugleich erlebt der Mensch den „Zaun der Gesetze“ manchmal als zu eng. Er möchte ihn übersteigen. Oft ist es die Neugier, die ihn dazu treibt, einmal über den Zaun zu klettern und zu sehen, was ihn jenseits erwartet.
Die Lehre des „Marienkinds“
    Dieses Motiv wird auch in vielen Märchen immer wieder beschrieben, etwa im Märchen vom Marienkind: Ein armer Holzhacker vermag sein Kind nicht mehr zu ernähren. So übergibt erdie Tochter Maria, der himmlischen Mutter. Sie nimmt das Kind mit ins Paradies und verwöhnt es dort. Es geht ihm in der Nähe der gütigen Mutter gut. Als es vierzehn Jahre alt ist, geht Maria auf Reisen. Daher übergibt sie dem Mädchen die Schlüssel zu den dreizehn Türen des Himmelreichs. Zwölf Türen darf sie öffnen. Doch die 13. Türe darf sie auf keinen Fall aufschließen. Das Mädchen schließt die zwölf Türen auf. Hinter jeder Tür sitzt ein Apostel, der von großem Glanz umgeben ist. Aber das Mädchen hat keine Ruhe, bis es auch die 13. Türe aufschließt. Die Engel warnen sie davor. Doch sie kann der Neugier nicht widerstehen. Hinter dieser Tür sieht sie die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen. Sie betrachtet alles staunend und berührt mit ihrem Finger den Glanz. Da wird der Finger golden. Jetzt bekommt es das Mädchen mit der Angst zu tun, ihr Herz droht zu zerspringen. Als Maria von der Reise zurückkommt, fordert sie die dreizehn Schlüssel zurück. Da sieht sie, dass der Finger golden ist. Dreimal fragt Maria das Mädchen, ob es die dreizehnte Tür geöffnet habe. Doch jedes Mal verneint das Mädchen. So wird es aus dem Himmel verstoßen. Es lebt zuerst in der Wildnis. Ein Königssohn findet die nun zur jungen Frau Herangewachsene und heiratet sie. Sie kann aber nicht sprechen. Dreimal gebiert sie ein Kind. Jedesmal kommt die Jungfrau Maria und fragt sie, ob sie die verbotene Tür geöffnet hätte. Jedesmal leugnet sie es wieder. Daraufhin nimmt Maria ihr das Kind weg und trägt es zu sich in den Himmel. Die Leute in der Umgebung des Königs halten die Königin für eine Hexe, die ihre eigenen Kinder verschlingt und verurteilen sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Als das Feuer schon zu brennen beginnt, schreit sie laut auf: „Ja, ich habe es getan.“ Sofort öffnet sich der Himmel und Maria kommt ihr entgegen, löscht das Feuer und bringt ihr die drei Kinder zurück.
    Offensichtlich muss das Mädchen die dreizehnte Tür öffnen. Die Tochter muss das Gebot der Mutter übertreten. Sie muss ihre eigenen Erfahrungen sammeln. Das führt sie zwar in dieFremde. Aber gerade hier findet sie zu sich selbst. Zunächst wird ihr Leben zu einer einzigen Lüge, und sie gerät in immer größere Bedrängnis, bis sie schließlich ihre Lebenslüge ausspricht. Eugen Drewermann deutet das Märchen als Entwicklung einer jungen Frau, die zuerst ganz im Bannkreis der Mutter lebt. Sie muss sich aus diesem Bannkreis befreien und ihre Sexualität erkunden. Sie muss ihrer Sehnsucht nach dem Geheimnis der Liebe, die den Himmel öffnet, nachgehen. Die Grenzüberschreitung konfrontiert sie zunächst mit sich selbst und führt sie in tiefes Leid. Sie ist in der Einöde zunächst von einer Dornenhecke umgeben. Sie sehnt sich nach Liebe. Aber niemand kann die Grenze überschreiten, die sie um sich herum aufgebaut hat. Als schließlich ein Königssohn die Dornenhecke mit seinem Schwert durchtrennt, die schöne junge Frau findet und in Liebe zu ihr entbrennt, da vermag sie nicht zu sprechen. Sie ist stumm geworden, unfähig, über das zu reden, was sie als Übertretung der verinnerlichten Elterngebote erlebt hat. Offensichtlich muss sie diesen Weg gehen, damit ihr Leben gelingt.

    In der Entwicklung jedes

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