Grenzen setzen – Grenzen achten
Sohnes und jeder Tochter braucht es den Übertritt der Gebote der Eltern, damit Kinder eigene Erfahrungen sammeln. Die Überschreitung der elterlichen Gebote birgt auch viele Gefahren. Eine Gefahr, die auch das Märchen beschreibt, ist die Lebenslüge: Auf der einen Seite möchte man weiterhin ein liebes Kind sein. Auf der anderen Seite spürt man, dass man längst aus dem Bannkreis der Mutter ausgebrochen ist. Aber man traut sich gegenüber der Mutter oder dem Vater die eigene Lebensauffassung nicht zu vertreten. Man hat Angst, sie zu verletzen oder von ihnen verstoßen zu werden. Erst im allerletzten Augenblick, in der größten Gefahr, ist das Marienkind fähig, ihre Lebenslüge aufzugeben und zu ihrer Tat zu stehen. Und sie spürt, dass jetzt ihr Leben erst neu beginnt. Die Mutter ist gar nicht so streng, wie sie es in ihrer Vorstellung gedacht hat.Sie möchte nur, dass sie zu ihrem Handeln steht. Die Wahrheit macht sie frei. Offensichtlich ist die Lehre dieses Märchens: Es ist nicht so schlimm, ein Gebot zu übertreten. Schlimmer ist es, nicht an die Vergebung zu glauben und sein Leben lang in einer existentiellen Lüge zu leben.
Ritter Blaubart
Ein ähnliches Motiv wie im „Marienkind“ finden wir auch im Märchen vom Ritter Blaubart: Ein Müller hat drei schöne Töchter. Ein scheinbar edler Herr schenkt ihnen drei wunderbare Halstücher. Kurz darauf erscheint er in der Mühle und bittet um eine Tochter als Frau. Die älteste Tochter willigt ein. Sie lebt nun in einem reichen Schloss. Doch in Wirklichkeit ist ihr Mann ein Raubritter. Er zeigt ihr das Schloss. In alle Räume darf sie hinein. Nur der mit der Eisentür ist ihr streng verboten. Als der Ritter mit seinen Genossen auf Raubzug geht, übergibt er seiner Frau die Schlüssel des ganzen Schlosses, auch den Schlüssel zur Eisentür. Und er gibt ihr ein farbiges Ei, auf das sie gut aufpassen und das sie immer bei sich tragen soll. Es kommt wie es kommen muss, die Frau schließt nach der Abreise ihres Mannes die Eisentür auf. Sie erschrickt, als sie darin lauter Leichen sieht. Das Ei fällt ihr zu Boden, in eine Blutlache. Als sie das Ei reinigen will, gelingt ihr das nicht. Zuhause ankommend sieht der Ritter nach Hause sofort, dass sie die Eisentür geöffnet hat und lässt sie von zwei Männern enthaupten. Genauso geht es der zweiten Tochter. Die dritte ist schlauer. Sie bewahrt das Ei unter der Bettdecke auf. Und sie steckt die Köpfe ihrer beiden Schwestern in einen Koffer. Als ihr Mann zurückkehrt, zeigt sie ihm das unversehrte Ei. Sie bittet ihn, mit ihr nach Hause zu ihren Eltern zu fahren. Sie nimmt den Koffer mit den Köpfen ihrer Schwestern mit. Daheim lässt sie ein großes Mahl feiern. Als letzte Speise trägt siedie Köpfe der Schwestern auf. Da erschrickt ihr Mann und will fliehen. Doch er wird von den bewaffneten Männern, die draußen wachen, gefangen genommen und dem Gericht ausgeliefert. Die Räubergesellen kommen nachts zur Mühle, um sie zu überfallen. Aber eine couragierte Magd schlägt allen, einem nach dem anderen, den Kopf ab.
In diesem Märchen muss die Frau das Gebot ihres Mannes übertreten, um innerlich frei zu werden und aus seiner Tyrannei auszubrechen. Seine gewaltsame Seite muss offenbar gemacht werden, damit sie sich davon befreien kann. Der dritten Schwester kommt ein Traum zu Hilfe und sie traut ihrer Kraft und Klugheit. Damit überwindet sie das Gefängnis, in das sie ihr Mann gesteckt hatte. Hätte sie das Verbot nicht übertreten, würde sie ihr Leben lang von ihrem Mann in dessen Lebenskonzept eingesperrt.
In der Geschichte vom Ritter Blaubart steckt eine existentielle Einsicht, auf die im anderen Zusammenhang Peter Schellenbaum hingewiesen hat. Er sagt, dass viele Ehepartner Angst davor haben, sich dem Einflussbereich des geliebten Menschen zu entziehen, weil sie Angst vor der Einsamkeit haben. Die Angst, so legt er dar, drückt sich in Überlegungen aus wie: „Wenn ich mich deiner Macht über mich entziehe, wenn ich deinen magischen Bann über mich rebellisch breche, wenn ich mich nicht mehr wie deine Marionette bewege, dann interessierst du dich nicht mehr für mich und liebst mich nicht mehr.“ Für Peter Schellenbaum ist es notwendig, das Nein in der Liebe zu lernen, damit die Beziehung nicht langweilig wird, oder damit nicht – was in einer symbiotischen Beziehung die Gefahr ist – Hass und Ressentiments gegen den anderen wachsen. Nur wenn beide Partner die gegenseitige Fremdheit akzeptieren,
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