Grenzfall (German Edition)
Bundesländern.
Die Spuren waren zu groß. Ein paar Schritte weiter kamen noch mehr Abdrücke dazu. Turnschuhe, Erwachsene und Kinder, eine größere Gruppe. Er ging zurück, nahm die Taschenlampe aus der Halterung an der Innenseite der Autotür und richtete den Strahl in den Straßengraben. Ein Bündel Kleidung, achtlos hingeworfen. Der Strahl glitt langsam über das Feld. Die Wintergerste stand kurz vor der Ernte.
Nichts.
Er stieg wieder ein und fuhr los. Die Allee führte direkt nach Peltzow, sie überquerte die Autobahn nach Polen und wurde nach einem scharfen Linksknick zur Dorfstraße. Von Osten her glänzte frühes Tageslicht auf dem Kopfsteinpflaster. Links die Kirche, die man als solche kaum erkannte, weil sie keinen Turm hatte. Daneben das alte Herrenhaus, zu DDR-Zeiten hatten sie hier gefeiert, wenn die LPG das Soll erfüllte oder auch nicht. Wen kümmerte es schon, was die Zahlen aus Berlin sagten. Heute lief ein Streit, wem das Haus gehörte. Irgendein Adeliger aus dem Westen hätte Ansprüche angemeldet, hieß es. Dem Haus war’s wurscht, sein Verfall war nicht mehr aufzuhalten. Er parkte direkt gegenüber vor seinem kleinen Einfamilienhaus, grauer Putz, braune Fenster. Nichts Besonderes, aber sein Eigen. Wobei die Zeitung derzeit ja voll war von Leserbriefen. Leute wollten wissen, ob sie ihre Häuser behalten durften, die sie vom Staat rechtmäßig erworben hatten. Einem Staat, den es nicht mehr gab.
Er zog leise die Haustür hinter sich zu, hängte das Gewehr in den Schrank zu den anderen und schloss sorgfältig ab. Das Telefon stand gleich im Flur, ein DDR-Modell, um das ihn bis zur Wende viele beneidet hatten. Als Abschnittsbevollmächtigter, kurz ABV, brauchte er es, auch wenn er nur ein Dorfbulle war, wie ihn die Netteren abends in der Kneipe nannten. Die nicht so Netten zischten ›Denunziant vom Dienst!‹, wenn er seine Runde machte.
Aus alter Gewohnheit griff er zum Hörer und wählte die Nummer, die auf dem Zettel neben dem Telefon hing.
»Bundesgrenzschutz, Dienststelle Pomellen, guten Morgen!« Uwe kannte die Stimme nicht. Sie klang jung und verschlafen. Kein Wunder, dass hier jeder reinkam, wie es ihm passte.
»Jahn, Uwe Jahn, Jagdpächter aus Peltzow hier. Ich habe –«
»Ach, Jahn, Sie schon wieder. Und was gibt’s heute zu melden?«
Machte der sich lustig über ihn? Er ignorierte den Unterton und berichtete leise, um seine Frau nicht zu wecken, wo genau er die Sachen gefunden hatte und wo die Gruppe sich seiner Meinung nach jetzt herumtrieb.
Der andere gähnte laut. »Hab’s aufgenommen. Schönen Dank auch, Herr Jahn.«
Sie nahmen ihn nicht ernst, die jungen Grenzer aus Pomellen. Und was wollten sie schon machen? Jeder, der laut ›Asyl!‹ krähte, konnte ja einfach hierbleiben. So war es nun im neuen Deutschland. Man konnte raus, und dafür musste man in Kauf nehmen, dass alle anderen rein konnten. Sie kamen, klauten einem das noch nicht abbezahlte Auto unterm Hintern weg und arbeiteten fürn Appel und ’n Ei. Da konnte man sich die Reisen aus dem Prospekt sowieso nicht mehr leisten. Düstere Zeiten waren das.
Er fühlte das bekannte Ziehen in der Brust. Die Entlassung saß ihm noch in den Knochen. Zack, alle Polizisten über fuffzig weg wie faule Eier. So schnell kann’s gehen. Die Frau war immerhin bei ihm geblieben, auch wenn es ihr zu schaffen machte, dass die Kinder sich kaum noch sehen ließen. Früher hatten sie gerne damit angegeben, dass der Vater ABV war. Heute war es ihnen peinlich. Der Junge hatte sich freiwillig zum Bund gemeldet, die Tochter machte eine Ausbildung im Westen.
Jetzt hatte er ja wieder Arbeit. Einen Job, wie man heute sagte. Bei dem er eigentlich nur das zu machen brauchte, was er sowieso am liebsten tat: auf die Pirsch gehen. Also besser noch eine Mütze Schlaf nehmen. Er legte sich in voller Montur aufs Sofa und zog sich die Wolldecke bis unters Kinn.
58 TAGE DAVOR
30. April 1992, Hansestadt Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Adriana Voinescu, dreizehn Jahre und dreihundertzweiunddreißig Tage alt, allein in der Küche im Erdgeschoss des achtgeschossigen Wohnblocks. Langer Jeansrock, noch aus Rumänien, so was trug hier keiner. Lieblings-T-Shirt in Pink mit Surfer, aus der Kleiderspende. Da kriegten sie gute Sachen her, aber es war gefährlich. So wie mit der hellblauen Cordjacke letztes Jahr.
»Die gehört Katrin!«, hatte Nils in der Schule gesagt, gleich an ihrem zweiten Tag. Katrin war Nils’ ältere Schwester, das
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