Grenzgang
gemeint. Er wusste, dass sie ihm in vielem überlegen war. Was würde er tun, wenn man ihm eines Tages mit der Arbeit gleich das ganze Land unter dem Hintern wegzöge? Konstanze hatte ein Jahr gejobbt und dann das Studium begonnen, das ihr vorher verwehrt geblieben war. Lernte Französisch an der Abendschule, obwohl sie es gerade nicht brauchte, aber das war der Punkt: Man wusste ja nie. Trotz seines Erfolgshungers kam er sich behäbig vor im Vergleich, und wenn er sich im Festzelt umguckte, dann sah er von dieser Behäbigkeit noch mehr. Hüftsteif und wohlgelaunt. Unter großem Jubel stimmte die Kapellegerade den Grenzgangswalzer an, und die Tanzfläche füllte sich. Er fühlte sich gut und hätte trotzdem gerne dem nächstbesten Grenzgänger sein leeres Glas an den Kopf geworfen. Nur so. Wenn er genauer in sich hineinhörte, dann war da nämlich noch ein anderer Ton, dunkler und schriller, aber auf den hatte er jetzt keine Lust. Das war bloß der Ballast, der sich angesammelt hatte auf dem Weg des Aufstiegs, und mit Konstanzes Hilfe würde er den eines Tages auch noch loswerden.
»Da tanzen zwei Frauen. Und da hinten noch zwei. Ist das normal in Bergenstadt?«
»Notlösung wahrscheinlich.« Anita Becker erkannte er von weitem, im gewohnt schrillen Outfit, aber die schien mit ihrer Tanzpartnerin noch die Schrittfolge zu verhandeln.
»Und wenn nicht, ich meine: Darf man hier offen lesbisch sein?«
»Mir ist kein Fall bekannt. Aber falls du die da in dem komischen schwarzen Dress meinst, mit der blonden Tanzpartnerin, die ist garantiert nicht lesbisch. Das können dir hier zwei Dutzend Männer bestätigen.«
»Auch noch so ein Alptraum von mir: dass alle, mit denen man mal was hatte, sich untereinander kennen und beim Bier ihre Erfahrungen austauschen.«
»Provinz«, sagte er. »Es waren aber, wenn ich das richtig verstanden hatte, in deinem Fall auch keine zwei Dutzend.«
Konstanze zuckte mit den Schultern, und er wischte den Gedanken beiseite und verfolgte Anita Beckers Tanzbewegungen, die nicht den Eindruck erweckten, als sei sie mit vollem Einsatz bei der Sache. Zwei oder drei Mal waren sie sich in seiner Kölner Zeit an der Uni über den Weg gelaufen, sie mit unverhohlener Verachtung für den Möchtegern-Intellektuellen, er mit verhohlenem Neid auf ihr Liebesleben beziehungsweise auf das, was er aus dem Bergenstädter Klatsch darüber zu wissen glaubte. Die Partnerin kannte er nicht; blond und gutaussehend, so weit er das durch Schwaden bläulichen Dunstes ausmachen konnte.
»Ganz plötzlich«, sagte Konstanze, »hab ich keine Lust mehr.«
»Wir schauen uns noch das Feuerwerk an, und dann gehen wir.«
Aus Tausenden Kehlen wurden die letzten Zeilen des Grenzgangswalzers geschmettert, dann verschluckte der Jubel die Musik und füllte das Zelt wie einen prallen Ballon. Weidmann trank sein Bier aus und schaute sich um: Wenn Menschenmassen außer Rand und Band gerieten, hielt er sich lieber abseits. Nicht Teil dieser brodelnden Suppe sein, sondern still beobachten und sich bestätigt fühlen in der eigenen Randstellung – so hatte er es immer gehalten. Konstanze nannte es sein Distanz-Syndrom und arbeitete auf ihre Weise daran, es ihm auszutreiben: gab nicht nach, ließ bloß zwischendurch mal locker. Und nickte verständnisvoll, wenn er behauptete, nach Abzug der Hormone sei Liebe schließlich auch nur eine besonders virtuose Form von Geduld.
»Vielleicht täuschen sich zwei Dutzend Männer einfach mal«, sagte sie jetzt, »jedenfalls haben sie sich gerade geküsst.«
»Haben sie?« Seine Augen suchten nach dem Pärchen auf der Tanzfläche, aber als er sie fand, standen sich die beiden auf eine Weise gegenüber, die nicht nach dem Austausch von Intimitäten aussah. »Sicher?«
»Auf den Mund.«
»Show«, sagte er. Die Musik war verklungen, der Jubel verebbt, und während die Tänzer das Podium verließen, trat der Kapellmeister ans Mikrofon und kündigte den Beginn des Feuerwerks an. Alle sprangen von Tischen und Bänken. Wie durch den Hals eines Trichters strebte die Zeltbelegschaft nach draußen.
»Gehen wir auch.« Sie zog an seiner Hand, und weil ihm der Satz von ihren gemeinsamen Kinobesuchen bekannt war, sagte er, was er dann immer sagte:
»Ich will noch den Abspann sehen.«
Nackt und im schmutzigen Weiß alter Laken blieben die Zeltwände zurück, nachdem sich die Massen verflüchtigt hatten. Erhielt Konstanze im Arm, ihren Hinterkopf an seiner Schulter, so dass sie nicht mitbekam, wie ihm
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