Grenzgang
Richtung Theke. Sein Zeitgefühl hatte ihn verlassen, es begann das ausgelassene Einerlei einer Nacht ohne Sperrstunde, und einen Augenblick lang trieb er staunend indiesem promilleschwangeren Fluidum. Er hatte es geschafft. Vier Jahre Galeerenarbeit waren nicht umsonst gewesen, sondern hatten ihm erst ein summa cum laude und dann vor versammelter Mannschaft Schlegelbergers Ritterschlag eingebracht: Die vierte Assistentenstelle, die der alte Fuchs in zähen Verhandlungen für seinen Lehrstuhl rausgeholt hatte – die kriegen Sie, Herr Weidmann. Er hatte die Bewährungszeit genutzt, und nun nahm Schlegelberger ihn auf als einen der seinen. Willkommen im Club, hatte Kamphaus mit seinem maliziösen Lächeln gesagt. Im September ging es los, und bis dahin würden sie durch Frankreich und Spanien reisen und das Leben genießen. Konstanze hatte genug Sommer an der Ostsee verbracht und wollte endlich den Süden kennenlernen. Vier Wochen lang würden sie nur ihrer Lust und der Sonne folgen, und sobald er daran dachte, wollte er am liebsten seine Vorfreude laut herausschreien, hinein in den Lärm des Festzeltes.
Er bestellte zwei Bier und stand gegen einen Pfosten gelehnt, bis Konstanze sich suchend nach ihm umdrehte und er sie mit einer Kopfbewegung zu sich einlud. Auf der Tanzfläche drehten sich einige Paare im behäbigen Bergenstädter Foxtrott. Er mochte den neuen Kurzhaarschnitt, der ihr Gesicht betonte, die dunklen Augen vor allem, die Aufmerksamkeit darin und das herausfordernde Glänzen.
»Warum sollte es für mich bizarr sein?«, fragte sie, als hätten sie vor einer Sekunde noch davon gesprochen.
»Dachte nur. Ist ja ein ziemlich rustikales Fest. Und dann die ganze Trinkerei.«
»Gehört dazu.«
»Und die trüben Gestalten.« Er spürte ihren prüfenden Blick auf sich, aber erwiderte ihn nicht, sondern peilte mit zusammengekniffenen Augen in den Dunst des Zeltes, erkannte Gesichter hier und da und bemerkte, mit wie wenigen Leuten er in den letzten Tagen gesprochen hatte. Außer seiner Familie gab es niemanden in Bergenstadt, den wiederzusehen ihn besonders freute.
»Ich frage mich«, sagte sie, »warum du den Ort immer ein bisschen schlechter machen musst, als er ist. Mir gefällt’s hier.«
»An Grenzgang macht Bergenstadt Spaß, aber einundzwanzig Jahre, da stellen sich gewisse Abnutzungserscheinungen ein.«
»Oder Anhänglichkeiten, die man sich nicht gerne eingesteht.«
Jetzt drehte er den Kopf in ihre Richtung und fühlte etwas, was noch neu war für ihn, weil er es erst seit diesem Sommer kannte, seit Träume es sich angelegen sein ließen, in Erfüllung zu gehen: eine Art von Souveränität, die sich innerlich wie Großzügigkeit anfühlte, wie ein Lächeln ohne Verstellung. Ungewohnt robust kam er sich vor. Es gefiel ihm sogar, wenn sie ein bisschen an ihm rumpiekste, auf der vergeblichen Suche nach versteckten Empfindlichkeiten.
»Drei Tage und dann ab in den Süden.«
»Fünf Mal am Tag fragst du mich, ob’s mir gefällt in deiner Heimat, aber du sagst nie: Ich hab eine gute Zeit hier.«
»Ich – habe – eine – gute – Zeit – hier«, roboterte er, und sie tippte den Zeigefinger auf seine Nasenspitze und sagte:
»Freak.«
»Nein, du hast Recht. Es ist zwar ein trauriges Kaff, aber mir gefällt’s hier auch. Ich werde mich nach einem Haus umsehen.«
Sie schüttelte den Kopf, und dann zog er sie so heftig zu sich heran, dass sie beide ihr Bier verschütteten. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob Konstanze eigentlich das ganze Ausmaß seiner Erleichterung erahnte. Wusste sie, was dieser Aufstieg in die Vorzimmer des Olymps für ihn bedeutete? Man hatte ihn gerade zum Assistenten des großen Hans Werner Schlegelberger gemacht. Nicht ›man‹, wohlgemerkt, sondern HWS persönlich. Willkommen im Club. Da brauchte Kamphaus gar nicht so herablassend zu lächeln.
»Hier hat jemand seine Motorik nicht mehr unter Kontrolle.« Konstanze wischte sich über einen Fleck auf dem Top und zog sich den Träger gerade. »Wo sind deine Eltern? Deine Mutterwollte unbedingt ein … Pfläumchen oder wie das heißt mit mir trinken.«
»Die sind schon weg. Mein Vater konnte nicht mehr.«
»Und deine Freunde? Du musst doch irgendjemanden kennen hier?«
»Da vorne tanzt Onkel Heinrich, wenn man’s tanzen nennen will. Wenn der von seiner Bank runterfällt, dann ist seine Hüfte endgültig hin.« Er zeigte mit dem Arm in die Richtung, in der der Bäckermeister auf einer Bank stand und im Takt der Musik
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