Grenzgang
machte. Immer noch trägt der Junior den Bürstenhaarschnitt des Vaters, und soweit ein Schwarzweißbild darüber Aufschluss gibt, scheinen sich auch die Blutdruckwerte einander anzunähern. Tipptopp ist eins der Lieblingswörter des Alten, egal ob es um Frisuren, Hecken oder Politiker geht, und Daniel kann ihn imitieren, wie er dabei eine Miene macht, als zitiere er griechische Klassiker im Original. Wie schon Platon wusste: Hauptsache tipptopp.
Im Innern des Hauses wird die Badezimmertür geöffnet. Der Gedanke an Daniel, den sie gerade hat festhalten wollen, entgleitet ihr wieder. Das Quietschen orthopädischer Schuhe setzt einen Moment aus und dann wieder ein, und Kerstin fühlt ihre Rückenmuskeln steif werden, als hätte sie eine falsche Bewegung gemacht. Langsam durchquert ihre Mutter die Diele. Den Stock hat sie sich unter den Arm geklemmt, so dass die Spitze beim Gehen gegen die Wand tippt, denn in den Händen trägt Liese Werner ihren Zahnputzbecher, der gegen alles Zureden seinen festen Platz auf dem Nachttisch neben dem Bett hat. Sonst stehlen ihn ›die Männer‹. Auf dem Esstisch steht das Frühstücksgeschirr, und Kerstin sieht im Geist die Stockspitze eine weitere Kaffeekanne über die Kante schubsen, während ihr Körper sich weiter versteift, je länger das Geräusch zerspringenden Glases ausbleibt. Dann verstummt das Quietschen der Schuhe, Kühle fließt von der Terrasse ab, und in Kerstins Rücken stößt ein Blick, nein, stößt nicht – stupst, berührt sie mit der sanften,kindergleichen Hilflosigkeit des Alters. Eigentlich, fällt ihr auf, hat die Hecke noch kaum ausgeschlagen; sie wird also Schwierigkeiten bekommen, ihrem scharfsinnigen Sohn zu erklären, warum sie trotzdem geschnitten werden muss.
»Muss ich denn dann meine Medizin noch nehmen?«
Vogelgezwitscher füllt ihren Garten. Blätter hängen reglos in der Morgenluft. Herzlichen Glückwunsch, Kerstin, denkt sie. Dann schließt sie die Augen.
»Hast du schon, Mutter. Gleich nach dem Frühstück.«
»So?«
»Ja.«
»Da waren doch wieder welche im Haus heute Nacht.«
»Nein, niemand.«
»In der Küche. Ich hab sie gehört, ja.«
In der Küche hab ich dich gehört, denkt Kerstin. Um halb zwei. Unerwartet schwer scheint die Sonne auf ihre Lider und verursacht einen Eindruck von formlosem Rot, das weder nah noch fern, noch sonst wie bestimmt ist, nur eine Farbe, die vor ihrem Auge schwimmt und sich warm anfühlt. Angenehm warm.
»Zwölf Grad waren’s am Morgen.« Mehrmals am Tag kontrolliert ihre Mutter das Thermometer auf der Fensterbank, und Dr. Petermann sagt, dass Demenzkranke häufig dieses auffällige Interesse am Wetter entwickeln. Für die Männer allerdings hat auch er keine Erklärung, außer der, die alles erklärt: das Alter.
»Ganze zwölf Grad«, wiederholt ihre Mutter. »Das wird noch was geben, ja.«
»Jetzt sind es mehr.«
»Bitte?«
»Jetzt ist es wär-mer.«
»Wird bald wieder, ja«, sagt ihre Mutter nach einer Pause, in der Kerstin ihrer eigenen Stimme nachgehorcht hat, der Anstrengung des lauten Sprechens in einzelnen Silben. Sie bekommt davon Falten um die Augen und Schmerzen hinter den Schläfen und bringt es sowieso nicht länger über sich, mitgeschlossenen Augen den Hang hinabzusprechen. Langsam wendet sie den Kopf.
Im blauen Alltagskittel steht Liese Werner in der offenen Tür, den Stock unter der Achsel und den Unterarm schräg abgewinkelt, mit einer Hand am Türrahmen. Die andere Hand hält den Becher. Letztes Jahr um diese Zeit hat sie noch bei Hans gewohnt und am fünfzehnten in Bergenstadt angerufen, aber an diesem Morgen deutet nichts auf ein Wissen um den Geburtstag ihrer Tochter, und Kerstin hat es beim Frühstück unterlassen, sie daran zu erinnern.
»Du hast noch Wasser im Becher, pass auf«, sagt sie, bedacht auf ihren Tonfall.
»Bitte?«
»Du tropfst. Da!«
Etwas Pinguinartiges liegt in der Kopfbewegung, mit der ihre Mutter an sich herabsieht.
»Trocknet schon wieder«, sagt Kerstin. Der kurze Moment aus Sonne und Stille verflüchtigt sich, und sie hascht nach ihm wie nach einem vom Wind fortgewehten Hut. »Ist das nicht herrlich, das Wetter? Der erste richtige Sommermorgen und … nein, lass es einfach von selbst trocknen. Mutter!« Sie macht einen Schritt nach vorne, während ihre Mutter sich bückt, um den nassen Fleck auf dem Boden zu beseitigen, der unterdessen größer wird, weil Kerstin den Arm mit einem Ruck ergreift, wie immer erschrocken über die Weichheit des
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