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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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sie. Immer noch keine Sonne über dem Schlossberg, und die Kastanien beim Landratsamt, die sie letzte Nacht vom Balkon aus gesehen hat, sehen blass aus im wolkengedämpften Licht. Einen Moment lang steht sie an der Kreuzung und überlegt, nach rechts abzubiegen, Richtung Stadt, um Brötchen zu kaufen fürs Frühstück. Ein einsamer Fußgänger kommt von dort den Kornacker herauf. Es ist, als ob sie tief durchatmen und Kräfte sammeln müsste für die einfachsten Entscheidungen, aber sie sitzt reglos hinter dem Steuer, bis der Fußgänger den schmalen Kiesweg überquert hat, der gegenüber der Grünberger Straße vom Kornacker abzweigt,an der Außenmauer des Landratsamts entlang, das gar kein Landratsamt mehr beherbergt, sondern die Kfz-Zulassungsstelle und das Kreisjobcenter. Aber den Park drum herum gibt es noch und ein paar Enten auf dem Teich. Dann bleibt der Fußgänger stehen und wendet den Blick, steht auf der anderen Straßenseite, ihr genau gegenüber, und durch die Frontscheibe hindurch sieht sie ihren Sohn an.
    Er trägt seine Jeansjacke gegen die morgendliche Kühle und hat eine Papiertüte der Bäckerei in der Hand. Schaut sie an ohne Erstaunen. »Uns liegen keine Meldungen über Verkehrsstörungen vor. Wir wünschen gute Fahrt.« Sie spürt das Auto nach vorne rollen und merkt dann erst, dass der Motor ausgegangen ist. Daniel legt den Kopf zur Seite. Fremd kommt er ihr vor, wie er da steht, mit der Brötchentüte in der Hand. Eine fremde Gestalt, die sich plötzlich in ihren Sohn verwandelt hat.
    Weil sie nicht weiß, was sie tun soll, zieht sie die Handbremse an und steigt aus. Bleibt in der offenen Tür stehen, als müsste sie sich erst noch überzeugen, dass es auch wirklich ihr Sohn ist.
    »Morgen«, sagt er. Vogelgezwitscher und feuchte Luft inmitten schlafender Häuser. Die leeren Parkbuchten vor dem Landratsamt.
    »Morgen«, sagt sie.
    Sein Gesicht ist es. Immer noch pickelig und unreif, aber ohne das Abweisende und Spöttische, stattdessen ruhig und mit einer Gefasstheit, die sie im nächsten Moment beunruhigen wird, aber jetzt nicht. Jetzt steht sie im schwarzen, ärmellosen Kleid in der offenen Autotür, hinter der sie sich das Kleid gestern angezogen hat auf dem Parkplatz der Sackpfeife. Manchmal sind es diese einfachen Dinge, die die eigenen Gedanken aus der Bahn werfen, über die man nicht hinwegkommt, das Banale und Verrückte, aus denen das Leben besteht, so wie alles andere aus Atomen und Molekülen.
    »Du bist überraschter als ich«, stellt er zufrieden fest.
    »Ja«, sagt sie nur.
    »Und du stehst schlecht, mitten auf der Kreuzung.«
    »Wo kommst du her?«
    »Fahr erst mal da weg.« Mit dem Kinn zeigt er in die Grünberger Straße, aus der sich ein Fahrzeug nähert. Also noch einmal den Wagen anlassen, zehn Meter fahren, dann steigt Daniel ein, und während der halben Minute bis rauf zum Rehsteig redet nur das Radio. Singt, genauer gesagt. Vor dem Gartentor hält sie an.
    »Also, wo kommst du her?«
    »Aus dem Krankenhaus.«
    Mit nervösen Fingern zieht sie den Autoschlüssel ab und sieht die Straße entlang, in der sie seit fast sieben Jahren wohnt. Die Dämonenkolonie Rehsteig. Sie lauern überall.
    »Was ist passiert?«
    »Die haben angerufen, als du nicht da warst. Es gab ja gestern eine weitere Untersuchung, CT oder so ähnlich, und der Befund war nicht günstig. Irgendwo ist Blut, wo keins sein soll. Und kurz nach der Untersuchung hat Oma das Bewusstsein verloren.« Er hat die Tüte auf die Ablage gelegt und sich im Sitz zurückgelehnt, und sie weiß, dass er sie im Sprechen ansieht aus den Augenwinkeln. Was er sagt, hat er sich vorher zurechtgelegt. Es wird der längste Text, den er seit langem gesprochen hat, jedenfalls zu ihr. Sie hat eiskalte Finger, weiß alles und nichts, und wo sie die Nacht verbracht hat, spielt keine Rolle mehr.
    »Gegen neun war das«, sagt er. »Also bin ich runtergegangen.«
    »Ins Krankenhaus.«
    »Sie haben ihr ein Einzelzimmer gegeben, und der Arzt meinte, wir könnten bei ihr bleiben.«
    »Wir?«
    »Ich in dem Fall.«
    »Und jetzt – ist sie alleine oder ist sie schon …«
    »Hans ist bei ihr.«
    »Hans.«
    »Ich hab ihn angerufen, bevor ich losgegangen bin. Heute Morgen ist er gekommen. Gerade eben.«
    »Und du warst die ganze Nacht im Krankenhaus.«
    »Ja.«
    Danke, liegt ihr auf der Zunge, und dann sagt sie es doch nicht. Der Rehsteig bildet eine asphaltierte Schneise zwischen blühenden Gärten, und die Häuser der oberen Straßenseite sind

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