Grenzgang
Glückwünsche der Kollegen, aber im Grunde interessiert ihn das schon nicht mehr. Mit einem Nicken signalisiert er Granitzny, dass er gewonnen hat, dann dreht er sich in die Richtung, aus der Kerstin ihm entgegenkommt.
»Schau an: Du bist ja doch noch gekommen«, sagt er und denkt: Am besten wäre ein offener Pakt. Er ist nicht in der Lage, den Versuch nicht zu wollen, aber mehr hat er vorerst nicht zu bieten. Ein filigranes Vielleicht. Sie dürfen bloß nicht anfangen, die Tiefe ihrer Wunden zu vergleichen, das würde am Ende zu furchtbaren Siegen führen.
»Drei Tage zu Hause sitzen.« Sie schüttelt den Kopf. Jünger sieht sie aus mit diesem Pferdeschwanz, und der Lidschatten, den sie aufgetragen hat, verleiht ihrem Blick zusätzliche Intensität. »Amüsierst du dich?«
»Und wie! In Granitznys Gegenwart gibt’s ja immer was zu lachen.« Er nickt und zuckt die Schultern. Meint es ernst und ist sich dennoch nicht sicher, wie er es sagen soll: Nehmen wir uns die Liebe als Fernziel vor. Aber Kerstin schaut ihn an, als wolle sie sich nicht länger mit Grübeleien abspeisen lassen, die will endlich was haben, was sie in den Wind schlagen kann. Und er ebenso! Warum sich einerseits so widerstandslos herumschubsen lassen von Granitznys kindischem Dickschädel und dann die Hände hinter dem Rücken verknoten, wenn es um sein privates Glück geht? Da vor ihm steht sie, hat alle Mauerblümchenattitüden von sich abgeworfen und sieht ihm direkt in die Augen.
»Hör zu«, sagt er mit dem Gefühl, sich von sehr weit obenfallen zu lassen. »Ich finde, wir haben genug Zeit vertrödelt, oder?«
»So was Ähnliches wollte ich auch gerade sagen.«
»Ich meine: Wir könnten uns ruhig häufiger sehen.«
»Und es müsste auch nicht immer im Wald sein.«
»Ich bin abends häufig frei.«
»Du musst nur klingeln.« Eben noch hat sie überlegt, ihn für den Abend auf ihre Terrasse einzuladen, aber jetzt sieht sie sich ihr Haus betreten, mit Thomas Weidmann an der Hand. Kein Verweilen in der Diele, in der schattigen Sommerstille hinter heruntergelassenen Jalousien. Eine offene Tür, auf die sie zugehen, als wäre es die einzige. Das Ende der Trauerzeit und der Beginn von etwas, was ihr vielleicht nur deshalb so undeutlich vor Augen steht, weil es so ungeheuer nah ist. Schwung und Schwindel ergreifen sie.
»Sollen wir uns jetzt küssen? In aller Öffentlichkeit, wie zwei Teenager?« Während sie ihm in die Augen sieht, machen ihre Gedanken einen wilden Sprung aus ihrem Haus und hinein in die Offenheit namens Zukunft: Sollte sie in Kürze eine berufstätige Frau sein, die nach der Arbeit ihren Freund besucht? Es ist verrückt, aber sie steht ganz ruhig, nimmt seine Hand und wünschte in der anderen kein Bierglas zu haben. Er hat kleine Falten um die Augen; die sind ihr schon einmal aufgefallen, aber sie weiß nicht mehr wann. Alles geht plötzlich ein bisschen schneller.
»Später«, sagt er. »Erst mal werden wir uns huppchen lassen.«
Sie legt den Kopf in den Nacken und lacht. Ein leises, flehendes Nein formt sich in ihrem Kopf. Um den Hals fallen möchte sie ihm, ihn drücken und herzen, bis die Menge den Frühstücksplatz verlassen hat und sie beide in die Gegenrichtung zurücklaufen können, zurück nach Bergenstadt.
»Niemals.« Immer noch lachend. Aufgeschreckt von einer fernen Erinnerung und vollkommen machtlos.
»Doch. Auf der Stelle.«
»Lass uns den Bus nehmen und zu mir fahren.«
»Danach.« Sein Lächeln lässt keinen Widerspruch zu. »Erst huppchen.«
»Thomas …«
Aber er nimmt sie an der Hand, sie verschluckt ihr Nein, und schon sind sie unterwegs. So schnell, dass Kerstin sich nicht fragen kann, ob ihr Herz vor Freude klopft oder vor Angst. Das Bierglas lässt sie einfach fallen unterwegs. Menschen erheben sich von ihren Plätzen im Gras. Leeren ihre Gläser. Eine Fichtenschonung begrenzt den Frühstücksplatz, und davor stehen der Mohr und die beiden Wettläufer. Dahinter ein Mann mit Trommel. Die Schlange vor dem Grenzstein hat sich bereits aufgelöst, die Rast ist beinahe vorbei, und einer der Wettläufer schaut auf seine Uhr.
War das damals genau hier? Am Frühstücksplatz des zweiten Tages? Sie konzentriert sich auf die drei Figuren in ihren Kostümen, den Mohr ganz in Schwarz und die Wettläufer in Weiß, Rot und Blau. Junge Kerle, sportlich und blass. Wie Atemnot sitzt ihr die Erinnerung im Hals, aber sie wird sich davon nicht schrecken lassen.
Wusst ich’s doch, dass wir uns wiedersehen, hat
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