Grenzgang
Jürgen ihr damals zugeflüstert.
»Noch jemand?«, ruft der Mohr und schaut sich um. Ein schwarzes vollbärtiges Gesicht mit weißen munteren Augen. Dunkler Anzug mit goldener Verschnürung. Ein Krummsäbel baumelt von seinem Gürtel. Sie kennt seinen Namen nicht, auch die der Wettläufer nicht. Stand alles in der Zeitung, aber sie hat’s vergessen.
»Hier!«, sagt Thomas Weidmann und dann leiser: »Du zuerst oder ich?« Er ist jetzt ganz in seinem Element, das spürt sie. Es mag Gedankenlosigkeit sein oder Berechnung. Jedenfalls fand sie ihn nie so unwiderstehlich wie in diesem Augenblick.
»Ich«, sagt sie. »Und danach fahren wir zu mir. Keine Wanderung mehr und kein Festzelt. Und morgen auch nicht. DerGrenzgang 2006 endet genau hier und jetzt.« Da ist ein Zittern in ihrem linken Bein.
»Wir fahren einfach weg, morgen. Irgendwohin.« Er spürt sein eigenes Nicken und wüsste gerne, ob er ernst meint, was er sagt und tut. Parfüm weht ihm entgegen aus ihrem großäugigen Gesicht, die Erinnerung an eine gemeinsame Nacht. Als ihm einfällt, dass ihr Exmann Wettläufer gewesen ist vor einundzwanzig Jahren und er also dabei, sie nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit zu ziehen, ist es längst zu spät. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jetzt müssen sie eben da durch. »Wird sich schon ein schöner Landgasthof finden für uns.« Es kommt ihm nicht einmal wie ein Versprechen vor. Sie hat schlanke, warme Finger, und er spricht einfach in den Duft ihrer Haut hinein und hält sich an die Wirklichkeit, soweit er sie zu überschauen vermag: Kein Grandhotel, kein Traumstrand. Vielleicht werden sie nachts eine Autobahn hören und sich fragen, warum sie nicht weitergefahren sind.
Mit einem Nicken lässt sie seine Hand los.
Den Anflug von Panik in ihrem Gesicht hat er bemerkt und bewundert sie, dass sie es trotzdem tut. Schaut ihr nach und genießt noch einmal die Eleganz ihres Gangs. Wenn es ihm nicht gelingt, diese Frau zu lieben, dann ist ihm nicht zu helfen.
»Hallo«, sagt sie. Da liegt ein Tuch auf dem Grenzstein, genau wie damals. Eine Kiste Mineralwasser, zwei zerknüllte Handtücher. Der Trommler wischt sich gerade übers Gesicht.
»Bitte sehr!« Der Mohr bemüht sich um einen schwungvollen Ton, aber ihm ist anzumerken, dass er seit zwei Stunden nichts anderes gemacht hat. Die beiden Wettläufer strecken die Hände aus. Sie dreht sich um, mit dem Rücken zum Stein.
Da steht Thomas Weidmann, und dahinter liegt der Frühstücksplatz, eine verschwommene Menge aus Menschen und Fahnen. Irgendwo darin ihr Sohn. Einundzwanzig Jahre ist es her, sie bemüht sich, nicht zu denken, dass es wie damals ist, und das muss sie auch nicht – denn es ist wie damals. Schweißgeruch hängt in der Luft. Die Geschäftigkeit eines Rituals undseine Routine. Vor einundzwanzig Jahren hat sie ihren Namen gesagt, weil sie dachte, huppchen sei wie unter die Fahne gehen. Hat Jürgen in die Augen gesehen, bis er kirschrot wurde im Gesicht. Jetzt blickt sie über den Platz und zu Thomas Weidmann, bemüht um einen Gedanken, an dem sie sich festhalten kann, aber da ist nichts. Nur Waldrand und Sonne. Mut hat sie, auch wenn es sich anfühlt wie Angst.
Die Wettläufer fassen an, und Kerstin presst die Lippen zusammen. Sagt sich, dass es keine Wiederholung gibt, nicht im wirklichen Leben. Das hier mag der Anfang oder das Ende sein, der Aufbruch oder das Ziel. Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal. Wie damals hält sie sich an den Armen der Wettläufer fest, fühlt die angespannten Muskeln unter feuchtem Hemdstoff. Was es allenfalls gibt, sind Kreuzungen in Raum und Zeit, und wenn man dort steht, sieht man einen Moment lang alles: die Wege, die man gegangen ist, die anderen, die man hätte gehen können, und die ganz anderen, an die man nie gedacht hat. Keine Musik spielt mehr auf dem Platz. Irgendetwas, so beharrlich wie ihr eigener Herzschlag, weht ihr in raschen Schlägen entgegen. Panik und Triumph. Kein Sieg über sich selbst, aber ein Teilerfolg. Und Thomas Weidmann schaut so ernst, sie würde ihm am liebsten die Zunge rausstrecken und zurufen: keine Verstellung mehr, Ende des Spiels. Sie wird ihn lieben, ganz einfach. Der Trommelwirbel erklingt, und während die Wettläufer sie drei Mal auf den Stein senken und wieder hochheben, sagt der Mohr mit müder Stimme, was er schon tausend Mal gesagt hat und noch tausend Mal sagen wird, ohne sich je zu wiederholen:
»Der Stein … die Grenze … in Ewigkeit.«
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