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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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seinen Gehstock schwang. Zwischendurch zog er den Hut und grüßte in alle Richtungen. Und hinter ihm in der Menge erkannte Weidmann seine Tante, die keinen Blick von ihrem Mann ließ, in einem fort den Kopf schüttelte und sich mit Sicherheit genau den Fall ausmalte, von dem er gerade gesprochen hatte.
    »Den hab ich heute auf dem Frühstücksplatz getroffen, als du unter der Fahne warst. Ich hatte das Gefühl, dass er nicht mit mir reden wollte, also standen wir eine Weile so da, schweigend, und plötzlich dreht er sich um und sagt: Der Sozialismus kommt wieder. Ich erleb’s nicht mehr, aber er wird zurückkommen.«
    »Typisch Heinrich.«
    »Soll heißen: Der meint das ernst?«
    »Es ist ihm ernst damit, das zu sagen. Heißt aber nicht, dass er auch dran glaubt.«
    »Sondern hofft?«
    »Vor allem macht’s ihm eben Spaß, das zu sagen. Hattest du das Gefühl, er will dich provozieren?«
    »Überhaupt nicht.«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Der verrückte Bäcker wird eben auch älter. Übrigens mag er dich, hat er jedenfalls gesagt unterwegs. Er meint, wir sollten heiraten, bevor’s zu spät ist.«
    »Wann ist es zu spät?«
    »Früher als man denkt, sagt Heinrich.«
    »Heinrich, also.« Mit einem Nicken schloss sie das Thema abund kam auf das vorherige zurück. »Aber sonst, du wirst doch noch mehr Leute kennen.«
    »Ist dir langweilig alleine mit mir?«
    »Ja«, sagte sie und grinste von Ohr zu Ohr. »Im Ernst: Schulkameraden zum Beispiel. Und zeig mir eine Frau, in die du früher richtig verknallt warst.«
    »Da gibt’s nur eine, und die sitzt wahrscheinlich zu Hause bei ihren Kindern. Gestern am Frühstücksplatz hab ich sie getroffen und fast nicht erkannt.« Selbst der Name war ihm erst nach einem Moment peinlichen Zögerns eingefallen: Susanne. Grund eines melancholischen Sommers nach dem Abitur und jetzt eine alterslose Frau zehn Kilo über ihrem Idealgewicht. Nach ›Wie geht’s denn so?‹ und ›Wo bist du denn jetzt?‹ war alles gesagt gewesen; mit seinem Bierglas in der Hand hatte er sich umgesehen auf dem Frühstücksplatz, auf der Suche nach der nächsten Bemerkung, nach irgendetwas Sagbarem, und war sich vorgekommen wie ein Wanderer in der Wüste, einsam zwischen leer gefegten Horizonten. Kein Wort weit und breit.
    Konstanze legte sich seinen freien Arm um die Schultern und griff nach seiner Hand. Er drückte das Gesicht in ihr Haar.
    Mit einem verlegenen Lächeln hatten sie sich schließlich voneinander verabschiedet, perplex ob des vollkommen gescheiterten Zusammentreffens, aber nicht in der Lage, wenigstens das in Worte zu fassen.
    »Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte er, »was ich an Bergenstadt mehr als alles andere mag, ist, dass ich es geschafft habe, von hier wegzukommen. Sozusagen den Unterschied zwischen dem, wo ich herkomme, und dem, wo ich jetzt bin – das mag ich.«
    »Das Gefühl der Überlegenheit.«
    »Nicht Überlegenheit, ich bin einfach stolz auf das, was ich erreicht habe. Und warum nicht? Ich hab’s mir nicht erschlichen oder erschmeichelt. Ich habe Grund, stolz zu sein.«
    »Weil irgend so ein Sonnenkönig dir sagt: Gute Arbeit, guter Mann.«
    »A: Er ist nicht irgendein Sonnenkönig, sondern eine echte Koryphäe, und er kann gute Arbeit von Schaumschlägerei unterscheiden.«
    »Ich will dir ja nicht deinen Stolz nehmen. Und B?«
    »Ich weiß, aber du könntest ruhig ein bisschen stolzer auf dich selbst sein. Grund genug hättest du, du erlaubst es dir bloß nicht.«
    »B?«
    »Ich kann selbst auch gute Arbeit von Schaumschlägerei unterscheiden.«
    Ihr »Okay« signalisierte weniger Zustimmung als die Bereitschaft, ihm vorerst seine Meinung zu lassen. Ehrgeiz erregte Konstanzes Skepsis, und seinen akademischen Ambitionen begegnete sie vorzugsweise mit Ironie. Ihr war der Neid nicht entgangen, mit dem er drei, vier Semester lang die jungen Mandarine an Schlegelbergers Lehrstuhl beobachtet hatte: Keine coolen Übermenschen mit Erfolg bei der weiblichen Studentenschaft, es war schließlich ein Historisches Seminar, in dem auch die Oberschicht dem Brillen- und Scheitelcode der Zunft gehorchte, aber trotzdem – auf ihre Weise überlegen kamen sie daher, intelligent und gebildet, schlagfertig und polyglott, ein bisschen arrogant, Kamphaus und die anderen. Ein bisschen so, wie er gerne wäre und Konstanze ihn nicht werden lassen wollte, aber das war okay. Es sollte ja spannend bleiben. Versuch bloß nicht, mir zu gefallen, hatte sie mal zu ihm gesagt und das ganz ernst

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