Grenzgang
Sie daraus bitte keine falschen Schlüsse. Mit Sechzehnjährigen ein Gespräch zu führen, das ist …« Sie deutet ein Nicken an und holt tief Luft und findet, dass ihre Lippen schmal und blutleer wirken, wenn sie sie aufeinanderlegt.
»Sie können mir vorwerfen, meinen Sohn zu sehr zu lieben. Ich weiß, dass es das gibt, und vermute, ein solcher Fall liegt hier vor. Aber wissen Sie, dass man viel seltener eine Wahl hat als das Gefühl, man hätte sie?«
Das war immerhin schön gesagt.
»Sie haben keine Kinder, nicht wahr? Seien Sie … nein, seien Sie’s nicht. Vergessen Sie’s einfach«, flüstert sie, das Gesicht so nah am Badezimmerspiegel, dass eine milchige Blase ihren Mund auszuradieren scheint. Mit beiden Zeigefingern fährt sie vom Ansatz der Nasenwurzel nach außen, unter den Augen das Jochbein entlang. Falten-Prophylaxe, ein Tipp aus der Brigitte . Für den Fall, dass Weidmann ihr Bad benutzen will, hat sie die über dem Heizkörper hängende Wäsche abgenommen und mangels einer anderen Gelegenheit in die Kommode unter dem Waschbecken gestopft. Jetzt kommt der Raum ihr nackt vor. Den weißen Lack der Heizung verunzieren dunkle Streifen, und auch die Kacheln darunter wirken angegriffen, abgenutzt, alt. Die Fensterbank tut vergebens so, als wäre sie aus Marmor.
Bitte auch daraus keine falschen Schlüsse zu ziehen, denkt sie.
Den Plastikbecher mit Deckel, in dem nachts das Gebiss ihrer Mutter sein Corega-Bad nimmt, hat sie im Spiegelschränkchen verstaut und holt ihn jetzt mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wieder hervor. Wozu so tun als ob? Und als ob was? Ihr Blick fällt auf den kleinen austernförmigen Flakon, dessen Glas selbst im Dämmerlicht ihres Bades seltsam zu funkeln scheint in seinem hellen, transparenten Gelb. Eine dieser exklusiven Marken, deren Namen sie vor dem Auspacken der Postsendung nie gehört hat. Der Gegenwert von Anitas schlechtem Gewissen. Mit einer schnellen Bewegung nimmt sie den Flakon in die Hand. Angenehm schweres, geriffeltes, weich gerundetes Glas. Nicht kühl, nicht warm liegt es in ihrer Handfläche. Sie zieht den Verschluss ab, hält ihn sich vor die Nase. Schnuppert.
Die Gemeinheit.
Ein Landstrich in Küstennähe, wo die Luft schwer ist von Lavendel und das Licht bernsteinfarben am Abend. So fühlt es sich an, nach dem Bad in ein Sommerkleid zu schlüpfen, mit Wasserperlen auf der Haut. Schlicht wie Baumwolle, kostbar wie Jugend, es ist ein Betrügerduft, der so tut, als könnte mansich einfach wieder auf die Haut sprühen, was das Leben längst abgetragen hat. Für sich selbst hätte Anita das nie gekauft, sie mag nichts flüchtig Sanftes, sondern bevorzugt Düfte, die die solide Unbescheidenheit des Reichtums atmen, dessen Perlen nicht aus Wasser und dessen Kleider nicht aus Baumwolle sind. Also hat sie eine Parfümerie aufgesucht und sich beraten lassen. In Nizza gibt es sicherlich Geschäfte, wo wenige Stichworte genügen, um eine Vorstellung von jener Madame Kerstin zu entwickeln und zu wissen, welcher Duft ihr am besten steht. Ein Bild nach Anitas Vorstellung, ein Mosaik aus wohlwollenden Lügen, so betrügerisch wie der Duft, der schließlich auf ein Probenschildchen gesprüht und mit geübter Handbewegung in den Raum disseminiert wird. Voilà, nicht wahr, man glaubt die ferne Freundin geradezu vor sich zu sehen in all ihrer schlichten Natürlichkeit. Oder natürlichen Schlichtheit. Sprechen wir’s aus: in ihrer liebenswerten Beschränktheit. Als wäre dieser Duft der Schleier, den sie im Vorbeigehen mit sich gezogen hat.
Kerstin stellt den Flakon zurück, klappt den Klodeckel herunter und widersteht dem Drang, sich darauf niederzulassen. Wahrscheinlich ist in der Küche der Kaffee schon durchgelaufen, und Weidmann beginnt sich zu wundern auf der Terrasse. Natürlich kann sie ihm, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, auch das kleine Gästeklo neben der Haustür anbieten, aber erstens ist das kein Gästeklo, sondern Daniels Privatklo, und zweitens muss sie befürchten, dass dieser telefonzellengroße, graubraun gekachelte Raum einen noch schlechteren Eindruck auf ihn macht. Sofern das Äußere eines Menschen Rückschlüsse auf das Innere seiner Wohnung zulässt, muss man sich Weidmanns Bad als gepflegtes Refugium vorstellen, einfach, aber ganz sicher hell, vielleicht mit einer Kaktee genau in der Mitte der Fensterbank oder einem Zeitschriftenbehälter aus Eiche, unauffällig zwischen Toilette und Wand platziert. Und drittens wäre es ihr wie eine
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