Grenzgang
Indiskretion vorgekommen, den Klassenlehrer ihres Sohnes in dessen Klo vorzulassen, ihm einen Blick auf die abgenutzte Zahnbürste, den Nivea For Men -Deo-Roller und dasFläschchen Gesichtswasser werfen zu lassen, das mangels Kommode in der Tasche von Daniels Bademantel steckt. Nein, in der gegenwärtigen Situation muss sie einfach hoffen, dass auch die dritte Tasse Kaffee die Blase von Studienrat Weidmann nicht an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt.
»Ich zähl auf Sie«, sagt sie ihrem Spiegelbild und verlässt das Bad.
Von der Küche aus kann sie Weidmann auf dem Gartenstuhl sitzen sehen, die Beine ausgestreckt und trotzdem mit geradem Rücken, also gleichzeitig entspannt und aufmerksam, wenn sie das aus dem Seminar Körpersprache und nonverbaler Ausdruck noch richtig in Erinnerung hat. Er scheint in den Anblick ihres blühenden Hanges vertieft zu sein. Im Gespräch folgen seine Augen manchmal einige Flügelschläge lang einem Schmetterling oder einer der Drosseln in der Kastanie und geben Kerstin Gelegenheit, das Fehlen eines Bauchansatzes und seine gepflegten Hände zu bemerken, aber jetzt steht sie mit dem Steiß gegen die Küchenanrichte gelehnt, sieht dem Kaffee zu, wie er in die gläserne Kanne tropft, und fragt sich, warum eine bestimmte Art von Nervosität sie partout nicht verlassen will. Nach allem, was er ihr gesagt hat, gibt es Gründe, erleichtert zu sein: Ein Verweis von der Schule steht nicht zu befürchten, und so gravierend Daniels Vergehen ist, scheint sein Klassenlehrer nicht bereit zu sein, es als Ausdruck eines zu Gewalt und Gewissenlosigkeit neigenden Charakters zu verstehen. An diesem Punkt ist er ein wenig vage geblieben, offenbar in dem Bemühen, das heikle Thema Familie nicht gegen ihren Willen zum Gesprächsthema zu machen. Auch als Psychologe spielt er sich nicht auf, begnügt sich mit den Fakten und lobt zwischendurch ihren Kaffee, ohne dass es bemüht oder anbiedernd wirkt. Keine noch so versteckte Anspielung auf Festplätze, Lahnbrücken, Heimlichkeiten. Das Gespräch tut ihr gut, sie mag den ruhigen Fluss seiner Rede und die Aufmerksamkeit seines Schweigens und vermutet, dass irgendwo in seinem Familienstammbaum ein paar Pfarrer hocken. Und trotzdem:Sie steht in der Küche, lässt die Minuten verstreichen, ihren Gast auf der Terrasse sitzen und hätte es vorgezogen, an diesem einen halben Nachmittag, den ihre Mutter außer Haus verbringt, alleine zu sein.
So bin ich, denkt sie. Wir müssen damit leben.
– Wer ist ›wir‹?
– Oh, nein, nein, nein! Wer meinen Geburtstag vergisst, bekommt auf solche Fragen keine Antwort.
– Du musst damit leben, glaubst nur du. In Wahrheit müsstest du dein Leben ändern.
– Dreiundzwanzig Jahre kennen wir uns, und ich hab nicht ein einziges Mal deinen Geburtstag vergessen.
– Ä-n-d-e-r-n.
– Als Daniel die Mandeln rausgenommen wurden, hab ich vom Telefon unten im Krankenhaus aus angerufen. Nach Kreta.
– Korfu. Du hast also beschlossen zu schmollen.
– Hab ich nicht. Ich schmolle einfach so.
– Flotter Kerl, da draußen auf der Terrasse. Für Bergenstädter Verhältnisse, anyway. Bin nicht sicher, aber ich glaube, ich hab ihn mal geküsst auf einer Abi-Fete.
– Fragt sich, wer von uns beiden sein Leben ändern muss. Übrigens hab ich ihn selbst mal geküsst und dir nie davon erzählt.
– Schnupper mal, wenn du ihm Kaffee eingießt. Ich tippe auf Yves Saint Laurent. Und apropos, gefällt dir, was ich dir geschickt habe?
– Ist nicht mein Stil.
– Deshalb hab ich’s dir ja geschickt.
Eben! Eben genau das! Oh, womit nach einer Einbildung werfen?!
– Es gibt viele Entscheidungen, die ich nicht mehr frei bin zu treffen, aber wie ich rieche, würde ich gerne weiterhin selbst bestimmen.
– Hör auf zu schmollen, hör auf mich. Du traust dich nichtzu leben, wie du gerne möchtest. Du traust dich nicht mal so zu riechen, wie du gerne möchtest.
Halt den Mund, denkt sie, nimmt die Kanne aus der Maschine und gießt den Kaffee um in die Thermoskanne. Dann geht sie zurück auf die Terrasse und wirft im Vorbeigehen den Veilchen auf der Kommode einen Blick zu, aber die lassen die Köpfe hängen, von denen ist keine Aufmunterung mehr zu erwarten.
»Sie müssen mir verzeihen«, sagt Weidmann. »Ich hatte nicht bemerkt, wie spät es ist. Und wir hatten ja besprochen, was besprochen werden muss. Ich sollte langsam aufbrechen.«
»Geben Sie mir Ihre Tasse«, sagt sie nur.
Kurz treffen sich ihre Blicke beim Einschenken. Sein
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