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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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dass er gehofft hatte, sie werde kommen.
    »Sie haben keine Kinder, hatten Sie gesagt.«
    »Nein.«
    »Dann wissen Sie auch nicht, wie anstrengend das manchmal sein kann. Kinder wollen das, was sie wollen, immer ein bisschen mehr, als ihre Eltern es nicht wollen, verstehen Sie?« Sie hatte zu ihm aufgeschlossen, als sie sich dem Rand des Festplatzes näherten, den Fluss hörten und die flache Brücke schemenhaft ausmachen konnten unter dem Blätterdach der Bäume.
    »Ja«, sagte er.
    Im Zelt erklang wieder ein Tusch, und kurz darauf mischte sich die Musik der Kapelle unter den Dampfmaschinenrhythmus des Rummels. Es waren nur wenige Schritte, dann wehte ihnen vom Fluss her ein kühler Hauch entgegen. Stille nistete in den Sträuchern entlang des Ufers, in den kleinen schilfbewachsenen Buchten. Schwarz und gleichmäßig schob sich die Lahn durch ihr Bett. Es war, als fiele hinter ihnen ein unsichtbarer Vorhang und hüllte alle Geräusche in Seide.

    Bei der Brücke, hatte sie gesagt, trotz Daniels Protest, und insofern war wohl etwas nicht richtig an dem Satz, dass Kinder immer den stärkeren Willen besitzen. Bloß konnte sie in diesem Moment überhaupt keinen Willen in sich entdecken, nur das Verlangen nach Stille und einem Ende der Verstellung.
    Den Kopf verdreht, den Schnabel im Nackengefieder vergraben, trieb eine Ente unter der Brücke entlang, und es war weniger die verquere Haltung des Vogels als die Sanftheit der Strömung, in der Kerstin sich selbst wiedererkannte.
    »Hören Sie«, setzte sie an.
    »Nein«, sagte er leise.
    Sie spürte seine Hand nach ihrer greifen und suchte mit der anderen nach Halt am Brückengeländer. Der Ärger, den sie den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt hatte, wallte wieder in ihr auf. Thomas Weidmann war so abrupt stehen geblieben, wie er die Nonchalance seines Tonfalls abgeschüttelt hatte, und ließ sie einfach auflaufen. Bier und Rasierwasser, zwei schale Duftnoten seiner Männlichkeit, füllten den sehr engen Raum zwischen ihnen. Ich bin selbst nicht mehr ganz nüchtern, sagte sie sich. Seine Hand lag jetzt auf ihrer Taille. Für einen Moment konnte sie sich nicht entscheiden, mit welchen Worten sie ihrem Ärger Luft machen sollte und worüber genau sie sich eigentlich ärgerte. Diffus und geradezu aufreizend passiv entwand sich das Gefühl der Verstimmung ihrem Griff. Was sie stattdessen zu fassen bekam, war Weidmanns Hintern. Ein eher flacher Akademikerhintern.
    Sie waren alleine. Blickten einander an. Nur mit den Augenbrauen kommentierte sie das Tun seiner Hand, das Tasten nach Haut über dem Bund ihrer Hose. Eine absurde Art von Folgerichtigkeit schien ihr in alldem zu liegen.
    »Sie wollen das nicht wirklich«, flüsterte sie.
    Der Kuss glich einem Wühlen nach dem Grund ihres Tuns. Beharrlich, aber ohne Hast. Ihre Hände suchten an seinem Rücken, am Nacken, wieder am Hintern – sie fand nichts. Sie hatte auch nicht erwartet, etwas zu finden. Weder auf seinen Lippen noch auf seiner Zungenspitze lag eine Antwort, und am stärksten empfand sie das Ausbleiben jeder Überraschung, ihre kühle Kenntnisnahme dieser Sinnlosigkeit. Warum küsse ich ihn, fragte sie sich und ließ seine Zunge ein Stück weiter vor. Die Erektion, die sich gegen ihren Schoß drückte, überging sie wie einen wenig sachdienlichen Hinweis, maß mit den Händen die Breite seiner Schultern und spürte seinen Atem auf ihrem Gesicht. Die Bohlen der Brücke knarrten unter ihren Füßen.
    Gegen seinen Griff nach ihrer Brust verstärkte sie die Umarmung. Nichts, was er tat, war ihr unangenehm, sie glaubte bloßzum ersten Mal in ihrem Leben zu wissen, wie Frigidität sich anfühlt. Seine Lippen waren nur Lippen, seine Hände nur Hände, seine Zunge nur feucht. Sie hörte die Musik aus dem Zelt und das Fließen der Lahn und warf einen Blick auf ihre innere Uhr: Die erste Runde Autoskooter ging gerade zu Ende.
    Ihre Gedanken trieben stromabwärts. Zum ersten Mal seit dreizehn oder vierzehn Jahren küsste sie einen anderen Mann als den eigenen, und es fühlte sich ungefähr so an wie die Betrachtung der Kopie eines bekannten Gemäldes: Man schaut darauf, findet keinen Unterschied, und dennoch fehlt was. Zu glatt alles, die Linien zu schnell gezogen und statt Phantasie nur Fingerfertigkeit. Weidmann küsste nicht schlecht, aber auf der Oberlippe vermisste sie die sanfte Reibung eines Bartes. Wie Betrug allerdings fühlte es sich nicht an, Betrug konnte niemals so vergeblich sein. Wahrscheinlich hatte Jürgen mit

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