Grenzgang
Rasierwasser besitzt eine herbe Note, aber er hat es aufgetragen, ohne sich vorher zu rasieren, und der Verhandlungsführer in ihrem Kopf begehrt zu wissen, was er gedacht hat vor dem Spiegel.
»In den Garten haben Sie viel Arbeit gesteckt«, sagt er.
Sie nickt und folgt seinem Blick. Seit der Rasen von Daniel nicht mehr zum Bolzen und Toben gebraucht wird, hat sie auch darin kleine Blumeninseln gepflanzt, Stiefmütterchen und Margeriten, die wild und von alleine wachsen, wenn auch nicht in solchen kreisrunden, Blütenform annehmenden Konstellationen. Wahrscheinlich kann ein Mann die Befriedigung nicht nachvollziehen, die von einem unter den eigenen Händen aufblühenden Garten ausgeht, und deshalb macht es ihr auch kein Vergnügen, den Garten mit ihm und durch seine Augen zu betrachten. Da liegt es, das Betätigungsfeld einer Frau mit zu viel Zeit. Denkt er dergleichen? Sie registriert ein Zucken seines Augenlides, das er zu unterbinden versucht durch weites Öffnen der Augen, als würde er sich Kontaktlinsen einsetzen. Jedenfalls vermeidet er es, sie anzusehen.
»Sie arbeiten nicht? Ich meine …«
»Zurzeit nicht.« Sie nimmt ihre Tasse in beide Hände und schlägt die Beine übereinander, entschlossen, sich genau diese Schmach jetzt nicht anzutun und stattdessen eine andere insVisier zu nehmen. »Sie hätten es ihm auch nicht zugetraut, oder? Meinem Sohn.«
»Nein. Wahrscheinlich sollte ich nach annähernd sieben Dienstjahren wissen, dass Schüler in dem Alter Dinge tun, die man sich nicht erklären kann, aber in Daniels Fall … nein. Ich gebe zu, dass ich es zuerst überhaupt nicht geglaubt habe. Ist das ein Trost für Sie?«
»Wie könnte es? Mein Sohn wächst seit seinem zehnten Lebensjahr in Umständen auf, von denen man nicht annehmen kann, dass sie ihm guttun. Wofür er nichts kann. Und wenn diese Umstände dazu beigetragen haben, dass er das getan hat, was er getan hat, dann liegt es nahe zu sagen, dass er für diese Taten auch nichts kann. Aber das stimmt eben nicht.«
»Darf ich kurz einwerfen, dass Sie mir keine Erklärung schulden.«
»Meine Erklärung läuft darauf hinaus, die Schuld bei meinem Exmann und mir zu suchen, wo sie wahrscheinlich ganz gut aufgehoben ist, aber: Daniel hat das getan. Und sobald ich es mir vorzustellen versuche, kann ich überhaupt nichts mehr erklären. Ich kenne Tommy Endler. Wir waren Nachbarn am Hainköppel.«
Natürlich hat sie überlegt, bei Endlers anzurufen. Jahrelang haben Evi Endler und sie einander über den Zaun gegrüßt und sich Tipps bei der Gartenarbeit gegeben. Haben selbst angebautes Obst und Gemüse getauscht und manchmal einen Plausch gehalten auf der Terrasse, Gespräche über Kinder und Haushalt. Gegenseitiges Blumengießen während der Urlaubszeit, und wenn Herr Endler im Winter Schnee geschaufelt hat, dann immer über die Grundstücksgrenzen hinaus. Nach der Scheidung ist Frau Endler ein Mal am Rehsteig gewesen für einen Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und einem Mangel an Gesprächsthemen. (Hübsch haben Sie’s hier, den Satz hat sie sich behalten.) Danach noch ein, zwei Weihnachtsgrüße, dann nichts mehr. Mittlerweile erscheint es fast natürlich, auf die andere Straßenseite zu sehen, wenn sie einander in der Stadt begegnen.
Weidmann nickt und legt einen Finger auf das zuckende Augenlid, aber als er ihn wieder wegnimmt, sieht sie es immer noch. Dann trinkt er einen Schluck Kaffee und macht mit dem Kopf eine Bewegung, die einen Themenwechsel signalisiert.
»Tanz, richtig?«
»Bitte?«
»Ihr Studium in Köln: Sport, aber mit dem Schwerpunkt Tanz. Ich wusste nicht mehr, ob ich es richtig in Erinnerung habe.«
»Ich weiß jedenfalls noch, dass Sie auch in Köln studiert haben«, nickt sie.
Ohne ersichtlichen Grund beginnt er zu erzählen, und es scheint ihm zwischendurch selbst unangenehm zu sein, wie genau er sich an alles erinnert. Sogar zwei ihrer früheren Kölner Adressen weiß er noch, und dass sie sich damals nicht genau darauf hatten verständigen können, ob sie einander nun bei der Feier zu Anitas fünfundzwanzigstem Geburtstag begegnet waren oder nicht. Manchmal tut er so, als ließe sein Gedächtnis ihn im Stich, aber sie sieht ihm an, dass er nur den Eindruck vermeiden will, er habe seitdem täglich an ihr Gespräch gedacht.
Sie hört ihm zu und versucht ihre Anspannung unter einem Lächeln zu verbergen. Hinter Bemerkungen wie:
»Wissen Sie, wie lange ich gebraucht habe, das Wort ›Sackpfeife‹ ohne kindisches Grinsen
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