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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Bewegung zurück und wurde überholt von den schockhaften und überfallartigen Meldungen und Ereignissen jenes Jahres. Es war eine harte Einsicht, anzuerkennen, dass man mit Benjamin, der einen Rhythmus für die Erschließung der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« gefunden hatte, in Moskau 1937 nicht weit kam.
Zertrümmerung der Zeit: Montage (Sergei Eisenstein)
    Es lag nahe, Ausschau zu halten nach einer Erzählung, in der der scharfe Wechsel, die Diskontinuität, der Bruch, das Fragment formbestimmend geworden waren. Und es ist keine große Überraschung, wenn einem hier sogleich Sergei Eisenstein in den Sinn kommt, der Meister und Theoretiker der filmischen Montage. Die Auflösung aller festen Orientierungen und Koordinaten, die Schocks, Brüche, kometenhaften Karrieren und aus heiterem Himmel niedersausenden Vernichtungsschläge legten dieses Verfahren nahe. Man könnte hier auch noch andere Modelle und Vorbilder nennen, die in Frage kamen – etwa das »Echolot« von Walter Kempowski. Aber auch hier stellte sich rasch heraus, dass das Modell nicht »funktionierte«. Die Montage gab zwar die Fragmentierung, den Bruch wieder, nicht aber die Dynamik, den Prozess der Radikalisierung, der so kennzeichnend für »1937« war. Die Montage hielt alles in der Schwebe, wie im All herumfliegende schwerelose Teile, die Bewegung war stillgestellt; auch die Montage erwies sich als unterkomplex.
Städtischer Kosmos (Suketu Mehtas Bombay: »Maximum City«)
    Die Stadt als zwischen Mikro- und Makrokosmos liegende Meso-Ebene par excellence erweist sich als ein besonders exponierter Ort der Gleichzeitigkeit, der Synchronisierung ganz heterogener Prozesse, der Verschlingung von Lebenslinien und Handlungsräumen auf engstem Raume. Das war mir geläufig seit Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«, Andrei Belys »Petersburg«, Heimito von Doderers »Strudlhofstiege«, John Dos Passos’ »Manhattan Transfer« – und zuletzt dem Bombay-Buch von Suketu Mehta. Gewiss ließen sich noch viele andere Autoren und Werke nennen, bei denen Ort, Zeit, Handlung, Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit thematisch geworden sind – James Joyce’ »Ulysses« etwa oder Musils »Mann ohne Eigenschaften«, die ja alle auch Bücher über Trajekte und Räume sind. Bei der Lektüre der Stadtromane lernte ich die unendliche Überlegenheit der Schriftsteller und Dichter bei der (literarischen) Produktion von Zeiträumen kennen, ihre Freiheit bei der Verknüpfung von Handlungssträngen, Lebenslinien, Ortsbeschreibungen und essayistischer Reflexion. Volker Klotz hat in seiner großen Arbeit »Erzählte Stadt« vorgeführt, was geschieht, wenn – wie bei Victor Hugo, Andrei Bely oder John Dos Passos – das räumliche Nebeneinander über das zeitliche Nacheinander triumphiert. »Eine Stadt in Lebensläufen, ein Roman aus Lebensläufen. Wie werden sie, die keine Handlung bindet, dargeboten? Jedenfalls nicht als kontinuierliche Folge, weder in sich noch untereinander. Selbst wenn Dos Passos darauf ausginge, der Gegenstand würde sich dagegen sperren … In den Äußerungsformen der Diskontinuität und der Gleichzeitigkeit offenbart die Stadt ihr Lebensgesetz, indem sie es geheimnisvoll denen entzieht, die sie richtungslos durchtaumeln.« 4 Als Historiker kann man nur mit Neid auf das blicken, was Schriftsteller und Dichter sich in ihrer unendlichen Freiheit erlauben können, während unsereins doch aufgerufen oder – gleichsam auf dem Boden kriechend – dazu verurteilt ist, den Dingen, den materialen Überresten auf die Spur zu kommen und sich dem Vetorecht der Quellen zu beugen. Die Leichtigkeit, mit der die Literatur Zeiträume erschaffen und erzählen kann, bleibt uns verwehrt. Sie führt uns aber Register vor Augen, von denen wir lernen können.
Chronotop (Michail Bachtin)
    Der Terminus, in dem Zeit und Raum auch sprachlich verschmolzen und theoriefähig geworden waren, stammt von Michail Bachtin: Chronotopos. In »Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik« machte Bachtin »die literarische Aneignung der realen historischen Zeit und des realen historischen Raumes sowie des – in ihnen zutage tretenden – realen historischen Menschen« zum Thema: »Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der

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