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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste ›perspektivische Verkürzung des Verstandes‹ nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ›weil‹ und ›damit‹ hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ›Lauf‹ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.« 1 Musil berührt hier nicht nur eine möglicherweise anthropologische Begründung des Erzählens, sondern macht die Grenzen der Erzählung, vielleicht auch die Grenzen des modernen Romans zum Thema. Aber das trifft auch die Geschichtsschreibung.
Linearität und Fläche:
Über die Vorherrschaft des Nacheinander
über das Nebeneinander
    Ob wir wollen oder nicht, ob wir es bewusst steuern oder uns unbewusst fügen: an der »seit jeher theoretisch nur schwach begründeten Dominanz der Zeit« (Reinhart Koselleck) hat sich kaum etwas geändert. Die geschichtliche Darstellung folgt in der Regel der zeitlichen Ordnung, ihr Grundmuster sind die Chronik und die Chronologie, das Nacheinander, der Prozess, die Abfolge der Ereignisse, ob nun kurzer oder längerer Dauer. Die Argumente für diese spontane Vorherrschaft der Zeit scheinen zwingend: Konsekutivität, Sequenzialität, Prozessualität, die der Dynamik der geschichtlichen Entwicklung angemessen erscheinen, decken sich mit dem Erzähl- und Schreibvorgang selbst; erzählte Zeit und Zeit der Erzählung befleißigen sich gleichermaßen der Ordnung des Nacheinander. Jede geschichtliche Erzählung tendiert – bewusst oder unbewusst – zu einem Primat der Zeitlichkeit und der Linearität, zu einer Vorherrschaft über die andere Dimension, ohne die es Geschichte nicht gibt, ohne die Geschichte nicht »stattfindet« und nicht erzählt werden kann: den Ort, den Raum, den Schauplatz. Ort, Raum, Räumlichkeit als die andere Dimension geschichtlicher Existenz sind aber charakterisiert nicht durch ein Nacheinander, nicht durch eine Abfolge, nicht durch Sequenzialität, sondern durch Nebeneinander, Koexistenzialität, Simultaneität. Dieses Nebeneinander und diese Simultaneität lassen sich offensichtlich im linearen Nacheinander des Erzählens und des Schreibens nicht erfassen. Erzählen und Schreiben sind sukzessive, sequenzielle Prozeduren. Das Nebeneinander und die Simultaneität bedürfen anderer Darstellungsformen: Es sind die Fläche, das Bild, die Karte insbesondere, die das Nebeneinander, die Koexistenz, die Gleichzeitigkeit der Dinge oder Vorgänge an einem Ort, in einem Raum zu einem gegebenen Zeitpunkt festhalten, sowie die Entwicklung von Narrativen, die die Komplexität historischer Vorgänge entfalten, anstatt sie zu reduzieren und in eindimensional-linearen Narrativen zu fixieren. Die Frage nach den Formen historischer Erzählung ist allzu lange und allzu oft als eine Frage nach dem »Stil« gestellt und als Problem literarischer Techniken, wenn nicht gar leserfreundlicher Präsentation komplizierter Materien missverstanden worden. Probleme des historischen Narrativs sind aber nicht zuerst literarischer, sondern epistemologischer Natur. Fragen der Rhetorik haben nicht so sehr mit »schönem Schreiben« oder »Lesbarkeit« zu tun, sondern mit den Formen, in denen sich eine Sache angemessen – oder schärfer: wahrhaftig – darstellen lässt.
    Die Problematik der historischen Erzählung ist so alt wie die Geschichtsschreibung seit Herodot, dem »ersten Erzähler der Griechen« (Walter Benjamin), aber sie stellt sich offensichtlich jeder Generation neu – bis hin zur Proklamation des Endes der »Großen Erzählung«. Historiker meiner Generation sind durch so ziemlich alle Säurebäder der

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