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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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die sich mit der Zeit als meine herausgebildet hat. Sie bietet keinen Überblick, weil ich einen Beobachtungspunkt auf mittlerer Höhe bevorzuge – nicht auf dem Aussichtspunkt, wo gewöhnlich Strategien entworfen werden, aber auch nicht im Getümmel ganz unten, das seine eigene Befangenheit und Betriebsblindheit produziert. Sie bietet keine Schlüsse und schon gar keine Lehren, sondern nur panoramatische Ansichten, deren Kenntnis manchmal aber hilfreicher ist als ein Rezept, das auf Ahnungslosigkeit beruht. Also: Dem historischen Augenblick und dem Ereignis soll nicht die longue durée als das Wahre gegenübergestellt werden, eher als das Komplementäre. Es geht um mehr Aufmerksamkeit für Aspekte des Lebens, die aus verschiedenen Gründen vernachlässigt werden: weil sie nicht spektakulär-reißerisch genug sind oder weil die Wahrnehmungsorgane für diese Dinge zu sehr verkümmert sind.
Der Paris-Moskau-Express oder
Einübung in die Grenzüberschreitung
    Es ist wahr, dass der Mauerfall überraschend kam, auch für die Feinfühligsten, aber es gab Vorbereitungen und Einübungen, die jenen Augenblick dann haben möglich werden lassen. Dazu gehören die semantischen Verschiebungen in der politischen Rhetorik des führenden Personals, Zugeständnisse, die einen Jahrzehnte zuvor noch den Kopf kosten konnten, Symbolpolitik, die auf Entschärfung längst obsolet gewordener Frontbildungen abzielte. Alles zusammengenommen, stellte sich jene Konstellation her, in der das Ereignis dann – gleichsam wie von selbst – möglich wurde. Zu diesen Voraussetzungen gehören auch Praktiken der Einübung in das Neue, Ungewöhnliche, in den Fall der Mauer vor dem Fall der Mauer am 9. November.
    In meiner Erinnerung verbindet sich die Empfindung, dass 1989 die alte Zeit abgelaufen war, nicht mit dem Mauerfall am 9. November – jene Nacht, so »wahnsinnig« sie war, war nur die Beglaubigung. Hier wurde nur sanktioniert, was schon entschieden war – vorher und anderswo. Ich verbinde mit dem Ende der Epoche andere Daten, andere Orte, ein anderes Personal. Sie kommen in den allerneuesten Meistererzählungen nicht vor.
    Dem Fall der Mauer ging eine lange Arbeit der Erosion und Zermürbung voraus. Sie ist für mich verbunden mit den Bewegungen des Ost-West-Express, auch Paris-Moskau-Express genannt. Irgendwann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verwandelte sich dieser Zug in einen Shuttle zwischen Moskau und Westberlin, und der Bahnhof Zoologischer Garten verwandelte sich von einem exotischen Fernbahnhof in einen großen Umschlagplatz des in Gange kommenden Ost-West-Ameisenhandels. Bahnhof Zoo, ein Erinnerungsort Westberlins par excellence , Endstation von jungen Leuten, die sich aus Westdeutschland absetzten, Studenten, allerlei fahrendes Volk, letzter Fernbahnhof, über den die Insel mit dem Rest des Kontinents verbunden war, Durchgangsstation für Züge mit exotischen Aufschriften – Warszawa-Hoek van Holland-London Victoria Station, Paris-Moskau, Oostende-Leningrad, Aachen-Kiew –, aber ansonsten eine Endstation für viele, die aus der Bahn geworfen waren, deren Geschichte Christiane F. in »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« erzählt hat, immer mehr vergammelt, Biotop von Junkies und Prostituierten, ein Bahnhof, den viele Westberliner ihr Lebtag lang gemieden hatten. Aber Mitte der 1980er Jahre passierte hier etwas, nicht Weltgeschichte, sondern jene molekulare Bewegung, aus der auch Weltgeschichte gemacht wird. Studenten der Dritten Welt, vorzugsweise der Moskauer Patrice-Lumumba-Universität – angehende Ingenieure, Agronomen, Architekten, Wasserbauspezialisten –, nutzten die neue Reisefreiheit, das Privileg ihrer Pässe und den Sonderstatus der »Selbständigen Einheit Westberlin«, in der nicht westdeutsches, sondern alliiertes Recht galt, um die Insel zu besuchen. Es bedürfte einer »dichten Beschreibung« jenes Vorgangs, der hier nur dem Augenschein und der Erinnerung nach aufgerufen werden kann. Es scheint ein gutes Geschäft gewesen zu sein, sonst hätte es nicht stattgefunden. Mit ihren Devisen, zu denen sie eher Zugang hatten als sowjetische oder polnische Bürger, deckten sie sich in Westberlin ein mit Waren, die besonders gefragt waren: Unterhaltungselektronik, Kühlschränke, modische Accessoires, auch Bücher. Zurück in Moskau wurden die in Westberlin gekauften Waren mit einem bestimmten Aufschlag weiterverkauft. Die Nachfrage war unbegrenzt, man konnte damit nicht nur sein Studium finanzieren, sondern vielleicht

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