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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« 5 Bachtin hat den Chronotopos für den Roman – den antiken Abenteuerroman, den Ritterroman, für Rabelais u.a. – entwickelt, nicht für die Geschichtsschreibung. Trotzdem lassen sich daraus wichtige Anregungen auch für das historische Narrativ entnehmen. Die Anregung oder Schlussfolgerung für eine Geschichtsschreibung lautet hier, dass es eine Korrespondenz zwischen geschichtlichem Verlauf und Konstellation einerseits und Darstellungsform andererseits geben könnte und dass die Katarakte katastrophischer Ereignisse eine andere Darstellungsform, vielleicht sogar ein anderes Genre verlangen als eben die Bewältigung einer langen, wohleingerichteten, in sich ruhenden Zeit.
Kontingenz und die Figur der Konstellation (Dieter Henrich)
    In Dieter Henrichs Studie zur Geburt des deutschen Idealismus wird den Gründen nachgegangen, warum ausgerechnet Jena und Weimar Geburtsorte einer geschichtsmächtigen neuen Denkweise haben werden können. Eine solche Studie gibt einem die nötige Sicherheit, sich auf den Zauber und die Macht der Kontingenz einzulassen, die im Schatten der Diskurse über Großprozesse und Kollektivsubjekte, die Logik oder Dialektik von Strukturen, Haupt- und Sonderwege für lange Zeit zu einem Schattendasein verurteilt war. Die Kontingenz, die Aufschlüsselung der Einzigartigkeit einer jeweiligen Konstellation und Konfiguration von Kräften, schafft jenen Freiraum, ohne den es ein rücksichtsloses Denken des historisch vorgefundenen Materials schwerlich gibt. Solche Exerzitien sind nicht unwichtig, um sich frei zu machen von den gängigen Zunft- und Schuldiskussionen.
Schließlich: Michail Bulgakows Roman –
literarische Bewältigung als
Anleitung für die historiographische
    Es war nicht absehbar, dass ein Werk auftauchen würde, das allbekannt ist, vielleicht so sehr bekannt, dass man es eigentlich gar nicht mehr als Schlüssel zu lesen versucht. In »Der Meister und Margarita« gibt es viele interpretationswürdige Schichten. Hier nur so viel. Das, was man zur Charakterisierung Bulgakows gesagt hat – magischer Realismus, phantastischer Realismus, das Unwahrscheinliche als das wirklich Passierende –, kommt dem Problem des Jahres 1937 ziemlich nahe: Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen erdachten und phantastischen Vorgängen – Verschwörungen aller Art, die Welt von Agenten und Spionen durchdrungen, jede Bagatelle eine Staatsaffäre, jeder Unfall eine von langer Hand geplante Sabotageaktion usf. – hatten sich aufgelöst, die willkürliche Behauptung setzte selber phantastische Wirklichkeiten. Der magische Realismus Bulgakows schien die literarische Form dessen zu sein, was einer historischen Erzählung erst noch bedurfte und deren Kern eben nicht die Geschichte des Terrors oder die Geschichte der Utopie war, sondern die Auflösung aller relevanten Unterscheidungen in einem Tohuwabohu der Selbstverwirrung und Selbstdestruktion, wo auch die Unterscheidung von Opfern und Tätern, jene so fest etablierte Frontlinie, die das Gute vom Bösen, den Freund vom Feind, das Wahre vom Falschen unterscheidet, hinfällig geworden ist. Das Thema oder der Chronotop des Bulgakowschen Romans ist der Zusammenbruch der Unterscheidungen und die Entstehung eines Raumes der totalen Willkür, in dem alles möglich ist.
    Der zweite Aspekt, sehr zu meiner Überraschung, war, dass fast alle konkreten Topoi des empirisch erschließbaren Moskau jener Zeit sich im Roman wiederfanden – Kommunalka, Parade, Totenzug, Hinrichtung, Schauprozess, Walpurgisnacht, himmelstürmende Bauten, die Chaotik und Idylle des vorstalinschen alten Moskau –, und zwar in einer Weise, die mir schließlich den Schlüssel für die Erzählung geliefert hat: in der Gestalt des Fluges über die Stadt hinweg, das social fabric der Stadt von oben besehen, das Ganze auf einen Blick, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse am gleichen Ort. Der Flug der Margarita konnte so zum Vehikel und zur Navigation über das Gelände, auf dem sich die Geschichte entfaltete, werden. Die Urform dieser aus der Vogelschau gewonnenen panoramatischen Zusammenschau ist die Teichoskopie, die Mauerschau, wie schon in der »Illias« von Homer vorgeführt.
    Alles zusammengenommen – die Bewegungsform des Fluges (nicht der Flanerie), die Stadt als ganze (wahrgenommen aus der Vogelperspektive) und die wichtigsten Handlungs- und Tatorte berührend (wie sie im Roman bzw. in der Chronik der Ereignisse

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