Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
einen ungeheuren Erkenntnis-, sondern einen nicht minder bedeutenden Formenreichtum hervorgebracht. Die Spannbreite der Zugänge und Methoden spiegelt die Komplexität der Welt wider, auf die sich Geschichtsschreibung einlässt. Sie entfaltet sich nicht nur in Genres und Spezialuntersuchungen, in Einzelforschungen und Synthetisierungsanstrengungen, Epochendarstellungen und Mikrostudien, Institutionen- und Geistesgeschichten, Biographien und Sozialgeschichten, und ihre Vitalität zeigt sich in einer unentwegten Verschiebung von Perspektiven und Neuerschließung oder Neubewertung von Quellen. Demgegenüber scheint die Arbeit mit dem Formenreichtum historischer Erzählung fast zweitrangig, so als könnte das Was vom Wie getrennt werden. Könnte es nicht sein, dass die Art und Weise, wie wir über das 20. Jahrhundert sprechen, hoffnungslos zurückgeblieben ist gegenüber dem, was sich ereignet hat. Könnte es sein, dass wir uns noch immer an den Formen des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts orientieren, wo wir längst in die Abgründe des 20. katapultiert sind? Und könnte es nicht sein, dass wir in einem Schematismus befangen bleiben, der uns daran hindert, den Abenteuern und Abgründen, die wir doch ausgemacht haben, eine angemessene Sprache zu geben? Vieles spricht dafür, dass die Neigung, sich auf Haupt- oder Sonderwege festzulegen, dass die Sucht, alles auf den Begriff bringen zu müssen, nicht bloß forschungslogische Gründe hat, sondern zutiefst in einem Sicherheitsbedürfnis begründet ist, in einer Angst vor dem Chaos und dem Irrationalen, das sich freilich durch Begriffe oder Modelle kaum beeindrucken und disziplinieren lässt.
Es gibt nicht ein narratives Modell, sondern so viele Herangehensweisen, wie es Gegenstände, Stoffe, Konstellationen der geschichtlichen Welt gibt. Es gibt kein Standardverfahren und kein Standardnarrativ. Man muss für jeden Fall und immer wieder aufs neue die angemessene Form finden. Das biographische Narrativ ist anders als das Narrativ einer Institutionen- und Bürokratiegeschichte, das Narrativ einer dramatischen Konstellation, in der eine Geschichte sich überschlägt, ist anders als das einer langsamen Zeit. Das alles verlangt mehr als die Abarbeitung eines Modells oder eines Idealtyps. Der geschichtliche Ernstfall ist nicht die Illustration eines Modells, sondern eher umgekehrt: Modelle werden der Wirklichkeit abgerungen. Wir müssen der Wucht des Materials vertrauen und die Illusion fallenlassen, wir seien Herrn des Verfahrens und könnten gleichsam über Geschichte wie über Versuchsanordnungen verfügen. Man muss nichts erfinden, nichts konstruieren und nichts ausprobieren. Wir müssen uns die Freiheit nehmen, uns von Begriffen und Schemata zu lösen. Ob wir mit einer Geschichte halbwegs klargekommen sind, wird sich nicht nur daran zeigen, ob sie den geschichtlichen Tatsachen entspricht, sondern daran, ob wir eine Sprache für sie finden, oder genauer: ob wir den Ton finden, der gewöhnlich die Musik macht. Vieles spricht dafür, dass wir den Kataklysmen der Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts, besser gerecht werden können, wenn wir uns nicht so sehr an die »brave, allzuverständige, nüchterne Muse des Nacheinander« halten, sondern mehr an die »Göttin des Durcheinander« (Wilhelm Raabe). Auch für Historiker hat es Folgen, wenn sie nicht mehr vom Ende einer linearen Geschichte auf die Vergangenheit zurück- oder herabblicken können. Sie lernen, etwas vorsichtiger und demütiger vom Privileg des Mehrwissens, das den Nachgeborenen ohne eigenes Verdienst zugefallen ist, Gebrauch zu machen, und sie gewinnen eine Vorstellung von den Risiken, die eine heillose und offene Gegenwart für die jeweils Lebenden bereithält.
(2011)
TEXTNACHWEISE UND ANMERKUNGEN
BRAUCHEN WIR EIN DENKMAL
DER DEUTSCHEN EINHEIT?
Der Text erschien unter dem Titel »Wir brauchen diese Wippe nicht« in: Die Welt vom 28. Mai 2011. Er setzt sich auseinander mit dem Gemeinschaftsentwurf von Johannes Milla & Partner (Stuttgart) und Sasha Waltz (Berlin), einer begehbaren Schale mit dem Titel »Bürger in Bewegung«.
STIMMÜBUNGEN IN D
Zuerst veröffentlicht unter dem Titel »Gelassenheit und Hysterie« in: Lettre International, Nr. 16, I/1992.
BILDER EINER AUSSTELLUNG
PROSPEKT FÜR EIN MUSEUM
DER TRANSFORMATIONSPERIODE
Erschienen in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Doppelheft 9–10/2005, S. 911–917.
AUF VERLORENEM POSTEN?
RUSSLANDFREUNDE UND
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