Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
Vom Netzwerk:
Selbstanalyse und Selbstreflexion gegangen, haben alle Stufen und Intensitätsgrade der Selbstverdächtigung und Selbstkritik hinter sich gebracht, die sich nur denken lassen, so dass es auf diesem Feld eigentlich nicht einen Rest von naivem Ursprungsdenken mehr gibt. Das »Zeitalter des Argwohns« (Nathalie Sarraute) hat längst auch die Geschichtsschreibung erfasst. Wir haben alles durchexerziert und durchdekliniert: das Verhältnis von Theorie und Erzählung, von Soziologie und Geschichtsschreibung, wir haben die letzten Zufluchtsorte, in die sich die Restbestände der Geschichtsphilosophie hätten flüchten können, durchlüftet, vielleicht sogar ausgebrannt, wir haben alle Illusionen, die mit »Meistererzählungen« verbunden waren, hinter uns gelassen und haben die Warnung verstanden, dass die Welt nur noch »in Stücken« zu denken sei. So konnte es kommen, dass Historiker sich schämten und dafür rechtfertigen mussten, Geschichte und Geschichten zu erzählen, weil auch sie, wie wir nicht erst durch Hayden White wissen, strukturiert sind durch Vorannahmen, Erzählstrategien und Tropen. Wir wissen natürlich, dass jede Erzählung, mag sie noch so plausibel daherkommen, selbst schon eine Interpretation enthält, explizit oder implizit. »Nicht unähnlich der Philosophie«, bemerkte vor Jahren Harald Weinrich, »hat nämlich auch die Geschichtsschreibung im Laufe der Zeit zunehmend den Komplex entwickelt, sich ihres erzählenden Charakters zu schämen. Als richtig wissenschaftlich gilt auch ihr nur die Geschichte, die möglichst viel bespricht und möglichst wenig erzählt.« 2 Seither hat sich viel geändert und im Karussell der turns scheinen wir nun nach dem linguistic , iconic , spatial usf. turn endlich im narrative turn angekommen: »We live in narrative’s moment. The narrative turn in the social sciences has been taken« (Mally Andres). Aber die Beschleunigung, mit der ein turn den anderen abgelöst hat, könnte man auch als »rasenden Stillstand« interpretieren, als Flucht aus der einen in die andere Einseitigkeit, wo es in Wahrheit doch immer nur auf die Entfaltung möglichst aller Register geschichtlicher Wahrnehmung ankommt. Hat daher Günter Butzer recht, wenn er meint: »Der Begriff der Narration ist ein Joker. Immer, wenn es in der Theorie der Geschichtsschreibung Probleme mit der Wissenschaftlichkeit gibt, wird er ausgespielt. Wenn die Zweifel an der Fassbarkeit der Geschichte allzu groß geworden sind, zieht man sich scheinbar bescheiden auf das Erzählen von Geschichten zurück: Ob Hayden White, Paul Veyne, Stephen Greenblatt oder Paul Ricœur – allesamt sind sie sich darin einig, dass Historiographie, wenn sie denn eine substantielle Eigenschaft besitzen soll, zuallererst Erzählung ist. Das war vordem anders …« 3
Gleichzeitigkeit und Gleichörtlichkeit.
Dinge zusammendenken
    Nicht die »Große Erzählung« ist an ein Ende gekommen, sondern Formen, die sich dem Gegenstand nicht gewachsen zeigen. Die folgenden Überlegungen ergaben sich nicht aus irgendwelchen kulturwissenschaftlichen Metadiskursen, sondern aus den Problemen, die bei der historiographischen Bewältigung eines spezifischen Themas – Moskau 1937, also im Jahr des »Großen Terrors« – zu lösen waren. Am Ende dieser Suchbewegung stand die Einsicht, dass nicht die »Große Erzählung« an ihr Ende gekommen ist, sondern allenfalls Formen, die dem Gegenstand nicht angemessen sind. Was sich bei einer auch nur kursorischen Übersicht über die Ereignisse dieses Jahres zeigte, war die äußerste Dichte, ja Verdichtung von Ereignissen, die sich alle vor Ort ereigneten, aber nicht unbedingt in einer Terrorgeschichte aufgingen: die Verabschiedung der neuen Verfassung im Dezember 1936, die Volkszählung im Januar 1937, der zweite große Schauprozess und das Puschkin-Jubiläum im Februar, der Selbstmord Ordschonikidses, die Eroberung des Nordpols, die Massentötungen ab August 1937 und die Entfaltung der Kampagne zu den Sowjetwahlen, die Premiere spektakulärer Unterhaltungsfilme und der Beginn großer Bauprojekte usf. Es ging im gegebenen Fall darum, eine narrative Form zu finden, in der das Neben- und Ineinander von Gewalt und Begeisterung, von Ausnahmezustand und Normalität, von atemberaubendem sozialen Aufstieg und Vernichtung aus heiterem Himmel, von gezielten Massentötungen und gesellschaftlicher Anomie erfasst werden konnten. Beides existierte gleichzeitig und gleichörtlich – und zwar nicht in der retrospektiven

Weitere Kostenlose Bücher