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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Klemmen, Verweilkatheter, rosa, gelbe und blaue Kanülen, Einmalskalpelle und Mullbinden. Auch einige Medikamente fehlten, die bisweilen auf recht mysteriöse Art und Weise verschwanden. Kyell legte Atropin, Dopamin, Xylazin, Ketamin und Naloxon nach. Und gerade als er sich auf einen ereignisarmen Tag voller Müßiggang einrichten wollte, ging die Tür auf und Tuva, eine wohlgenährte Bäckerin und gottgewollte Sopranistin aus dem Norden, stand im Rahmen. Ihr Brustkorb im Umfang eines trächtigen Blauwalweibchens bebte leicht. In ihren Armen hielt sie ein geschlossenes Körbchen, in dem normalerweise Katzen oder sonstiges Kleingetier transportiert werden. Das Sichtgitter bestand aus 18 Millimeter dicken Stahlstangen, eine Sonderanfertigung, von Baal, dem Schmied. Kyell konnte nur zwei grün schimmernde Augen erkennen, aber er wusste, es war Josef. Und er wusste, dass Angst eine angemessene Reaktion war. Josef wurde einfachheitshalber Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili gerufen. Wenn es schnell gehen musste, Stalin, aber dann war es mehr ein Schreien und meistens auch schon zu spät. Stalin war ein übergewichtiger schwarzer Kater mit dem Leumund allen Ungemachs, eine Ausgeburt des Hades gewiss, nur nicht ganz so sanftmütig, dafür aber ohne Erbarmen. Es hieß, Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili töte am liebsten Vögel, die allgemeinhin Adler heißen.
    »Kastration«, sagte Tuva in einem merkwürdig schnaubenden Tonfall.

5
    Im Taxi hiphoppte Tyler, The Creator, doch Gretchen Morgenthau nahm die Nigger und Bitches gar nicht wahr, sie schaute aus dem Fenster und dachte an Minna von Barnhelm, aber nur kurz, dann wechselte sie zu lachsfarbenen Ballerinas mit schwarzen Strass-Applikationen von Valentino. Sie war eine Meisterin, Dinge um sich herum auszublenden und in die Untiefen eines gänzlich neuen Bewusstseins abzutauchen, und so schaute sie zu, wie ein leichter Nieselregen die Stadt in ein trübes Dämmerlicht graute. Der Fahrer, ein junger Mann mit afrikanischen Wurzeln, hatte zur Begrüßung nicht den allererstbesten Eindruck hinterlassen, die Unterhaltung war nur von kurzer Weil und linguistisch weit entfernt von der Grandezza vergangener Zeiten.
    »Hey Schwester, was geht?«
    »Bitte?«
    »Oh sorry, Ma’am, Sie haben von Weitem irgendwie jünger ausgesehen.«
    »Bitte?«
    »Ich wollte damit sagen, Sie sehen immer noch toll aus. Eine Chica in den besten Jahren, ich meine Babe oder Braut, na ja, Braut, oder heißt das Maid in Ihren Kreisen, ich bin da jetzt etwas verunsichert. Nennen Sie mich doch einfach Jassir.«
    »Ins Emilys. Vorher halten Sie bitte noch bei einem Floristen. Obwohl, nein, vergessen Sie das. Direkt ins Emilys. Und keine Umwege. Fünf Meilen immer geradeaus, dann dreimal links und dreimal rechts. Können Sie sich das merken?«
    »Ich kann Wikipedia auswendig, Milady.«
    »Und bitte keine Musik. Insbesondere nicht diese Folklore. Nur fahren.«
    »Null Problemo.«
    Tabu war das gesprochene Wort seither, eine stillschweigende Übereinkunft, ganz so, als hätten sie sich nichts mehr zu sagen, dabei hatte Gretchen Morgenthau eigentlich immer etwas zu sagen. Das Reden war ihr nie schwergefallen, es war wie Atmen, nur leichter. Und hätte man sie je gefragt, auf was sie eher hätte verzichten können, so hätte sie aufgehört zu atmen. Aber in diesem Taxi, auf dieser Rückbank, auf der schon tausend andere Menschen saßen, Menschen, die etwas hinterließen, eine Note, die im Zusammenspiel mit anderen Noten aber keine Melodie ergab, sondern Geruch, in diesem Taxi war es nicht nötig, mehr als sie selbst zu sein, und das war mehr als genug, mehr, als in manchen Momenten zu ertragen war, wie ihr Vermieter, Mr. Little, einmal zu sagen pflegte. Fremd waren ihr die Engländer bisweilen immer noch, obwohl sie besser Englisch als Deutsch sprach. Aber auch die Wiener waren ihr fremd, oder umgekehrt, dabei war ihr Vater selbst einer, der Diplomat, der seine Familie von Land zu Land siedelte, von dem sie ihr unstetes Leben in die Wiege gelegt bekam. Denn nie lebten sie länger als fünf Jahre in ein und dem selben Land, im selben Ort, im selben Haus. Weder die Grundschule in Bern, noch das Internat in Eaton besuchte sie länger, und auch ihren Müßiggang in Paris absolvierte sie in nur sechs Semestern. Später dann folgten die Engagements in aller Welt, in Prag, Amsterdam, Chicago, Berlin, Mailand und einem Dutzend weiterer Städte, in Theatern, in denen sie mal mehr, mal weniger erfolgreich inszenierte.

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