Gretchen
versuchen. Und was würde als Nächstes kommen? Dass sie ihr Geschirr selbst spült? Mit Putzmitteln? Also wirklich.
Es gab Tage, die konnten ihr gestohlen bleiben, aber auf Diebe war auch kein Verlass mehr. Der Kaffee hinterließ Spuren, eine kleine Unruhe bemächtigte sich ihrer, ein Blick auf die Uhr, es wurde Zeit, sie wollte nicht zu spät kommen, sie hasste Unpünktlichkeit. Insbesondere bei anderen. Denn selbst kam sie nie zu spät, es sei denn, Naturgewalten waren am Werk. Sie war ja selbst erstaunt, wie oft London von einem Tsunami oder einem Erdbeben heimgesucht wurde. Erst letzten Dienstag hatte sie Pech mit einem Vulkanausbruch, der ihren Friseurtermin um gute zwei Stunden nach hinten verschob. Diesmal jedoch wollte sie allen Eventualitäten die Stirn bieten und nur die akademische Viertelstunde gelten lassen.
Im Ankleidezimmer, mit zwölf Quadratmetern eine Bürde, die sie aber zu tragen verstand wie keine Zweite, erschrak sie für einen kurzen Moment. Ihr fiel auf, dass sie gar nichts zum Anziehen hatte. Armut, so dachte sie, müsse man sich leisten können, ein zu teures Vergnügen, als dass sie je die Muße dafür gehabt hätte. Und so war es auch nicht das Wenige, sondern das Viele, das ihr Kopfzerbrechen bereitete. Für die Verhandlung musste etwas dezent Autoritäres her, eine Mischung aus Eleganz und Überheblichkeit, auf jeden Fall nicht ganz so verspielt, wie sie es sonst bisweilen wagte. Eigentlich hätte sie eine Stunde für die Kleiderwahl veranschlagt, um auch nur halbwegs dieser Aufgabe gerecht werden zu können, aber der Schnupfen hatte ihren Zeitplan durcheinandergewirbelt. Es war nun an ihr zu zeigen, dass sie auch in extremen Situationen die Nerven behielt und das Unmögliche möglich machen konnte. Ihre Wahl fiel auf ein korallenrotes Chanel-Kostüm aus Mohairwolle, von glücklichen Ziegen gewiss, dazu schwarze Mid Heels von Rupert Sanderson, Betty ihr Name, denn Schuhe ohne Namen, sagte sie immer, haben keine Seele, und ohne Seele gehe sie nicht aus dem Haus. Passend dazu wählte sie die Riviera Stola von Louis Vuitton und die schwarze Handtasche von Fendi. Sie legte ihre Wahl aufs Bett, ging ins Badezimmer, schaute in den Spiegel und dachte an Wintergemüse, danach an Artaud und danach an Prada. Das Sprunghafte ihrer Gedanken war nicht neu, es nahm nur zu in letzter Zeit, ein sonderbares Gefühl, nicht nur verrückt zu sein, sondern irre zu werden. Sie spielte mit ihren langen grauen Haaren und mit der Idee, einen Dutt zu flechten, aber ganz sicher war sie nicht. Rouge Noir und Eight Hour Cream waren Standard. Beim Hübschmachen wollte sie keine Experimente wagen. Es reichte, wenn sie ihre großen, wasserblauen Augen betonte, in denen zu ertrinken nie schwerfiel, Vergnügen indes bereitete es eher selten. Es stimmte wohl, was ihre beste Freundin Fine immer sagte, dass sie die Menschen verstöre, schon mit ihrer Erscheinung, die nicht recht ins Bild einer 75-Jährigen passte, in dem das Rollatorende und das gebrechliche Hinwegsabbern des Restlebens noch nicht ausgemalt wurde. Immer noch wirkten ihre Beine in den blickdichten Strumpfhosen von Wolford, die sie in allen nur denkbaren wie auch bedenklichen Farben besaß, nahezu makellos, ihrem Gesicht mangelte es an Demut, und selbst ihre vielen Falten waren so beneidenswert geschwungen, als hätte Vermeer höchstselbst den Pinsel geschwungen. Mit ihren aufrechten 1 Meter 80 überragte sie die meisten Männer mühelos, und sie mochte es, wenn den Männern ungeheuer war, und wenn sie dann noch die Stimme erhob, die auch ohne Mikrofon kleine Gemeindesäle zu beschallen verstand, dann gingen die Männer lieber auf den Naschmarkt, zu Marillenschnaps und Friedefreudeeierkuchen. So jedenfalls waren die Männer in Wien. Und auch in ihrer Wahlheimat sah Gretchen Morgenthau die Männer an, als stände auf ihrer Stirn das Wort Opfer. Die Männer aber waren ein anderes Thema, ein ganz anderes, denn als sie erneut auf die Uhr schaute, fiel ihr ein, dass sie vor der Verhandlung noch mit Fine verabredet war, im Emilys. Sie musste noch ein Taxi rufen, und sie betete zu Gott, der Taxifahrer möge nicht wieder ein verhinderter Thomas Bernhard sein, der trunken auf nassen Heldenplätzen taumelt. Und sollte erneut ein Schüler ihr über die Straße helfen wollen, so versprach sie hoch und heilig den Notarzt zu rufen, bevor sie das dumme Kind vor einen Bus schubste. Frühkindliche Erziehung war schließlich erste Bürgerpflicht in London, dem
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