Gretchen
anders waren diese Aussetzer nicht zu erklären. Sie musste sich zusammenreißen, sonst dichtete irgendein Pinsel postum noch ein »Mehr Licht« herbei. Oder ein »Mehr Wein«. Irgendetwas mit Blut müsste es sein, dachte sie, etwas Radikaleres. Obwohl, nein, auch nicht. Es war schwerer als gedacht. Zweifelsohne. Die Geschichtsbücher wurden nicht umsonst pausenlos umgeschrieben. Die wenigsten wohl waren in der Lage, die ewigen Worte im Stehgreif zu diktieren. Die Besten vielleicht.
Die Allerbesten.
Und die Geschändeten.
Die auch.
Sie musste an Fines Enkel Jakob denken, der mit 14 Jahren an Leukämie erkrankte, ein merkwürdig höflicher und unbändig neugieriger Junge, der Sprechgesang so liebte und kurz vor dem Verlöschen mit ruhiger, fester Stimme sagte: »Ich fick dich, lieber Gott, ich schwör.« Das war natürlich nur schwer zu überbieten. Wollte sie auch nicht, diese famose Wucht war nur in jungen Jahren von charmanter Grazie. Wer knapp über 30 war, musste abstrakter lautmalen, keine Blamage niemals, es sei denn kompletttotal. Sie dachte an etwas Verschwurbeltes, nicht bedeutungsschwanger, mehr beiläufig und leicht, so wie das Fallenlassen eines Taschentuchs auf einer belebten Straße, so wie der flüchtige Blick eines Fremden in einer Drehtür, so wie der kurze Moment der Stille vor einem Wolkenbruch, so wie:
»Es fängt an zu regnen.«
Sie gab auf. Sollten andere in Bedeutungen stöbern und Mythen entdecken, ihr war die Zeit zu schade für eitlen Unfug. Und bevor ihre Stimmung umschlug und sie gar unleidlich wurde, sagte sie zu ihrem Assistenten, der fragend dreinschaute, zumal es gar nicht regnete: »Ja, schreib das auf.« Und sie war überrascht, denn es klang weit weniger wirsch als gewollt.
»Müssen Sie wirklich fahren?«
»Ja, aber ich habe eine Wette abgeschlossen. Wenn ich es bis Schottland schaffe …«
»Bis Schottland? Mit einem Ruderboot?«
»Unterbrich mich noch ein einziges Mal und ich schneide dir die Kehle durch. Mit einem stumpfen Küchenmesser.«
»Aber …«
»Fantasie, mein Junge, Fantasie. Und das ist doch auch das Schöne, das Ungewisse, dass wir nicht wissen, ob ich es bis nach Schottland schaffe oder nicht.«
»Okay«, sagte Kyell weniger aus Überzeugung, als vielmehr aus Höflichkeit.
Und dann stand Gretchen Morgenthau auf, und ihr wurde ein bisschen schummrig, Kreislauf, dachte sie, weniger sitzen, mehr Bewegung, das alte Spiel.
Sie ließ den Gepäckträger vorgehen. Bis zum Ende des Stegs. An dem das Boot angebunden war. Und auf sie wartete.
Kyell verstaute Koffer und Korb im Heck des Bootes. Er hielt ihre Hand, damit sie unfallfrei einsteigen konnte. Er hielt sie etwas länger fest als nötig. Einfach so. Sie fühlte sich kalt an. Die Hand. Und als er sie wieder losließ, roch er Wacholder und Moschus, Moos und Mandarine, Amber und Jasmin, und ihm gefiel dieser merkwürdige Duft, auch wenn es ein Parfum war, denn er wusste mittlerweile, dass es Momente gab, die man nie vergaß, und für ihn waren diese Momente immer mit Gerüchen verbunden, anders konnte er sich kaum erinnern.
Das Boot schlonkerte beim Einstieg. Sie setzte sich auf die noch kalte Holzbank und betrachtete ihr Gefährt etwas genauer. Ein traditionelles, aus Massivholz gefertigtes Boot, weiche Rundungen in strenger Form. Tiefe Hingabe und großes Können waren hier am Werk, keine Frage. Sie streifte mit ihren Händen über die in Dollen gefangenen Skulls. Es fühlte sich genau so an wie damals. In die Auslage gehen, Blätter senkrecht drehen und durchziehen. So klang es in ihrer Erinnerung. In Zeiten der Vermessenheit, als es noch wurstige Butterbrote und eine williwinzige Heimat gab. Ihre Blicke schweiften ziellos umher, weder suchend noch findend, und doch stutzte sie für einen Moment oder für eine Ewigkeit, denn nie zuvor war ihr diese Welt so nah. Der Wind wehte eine Strähne vor ihr Gesicht, die störte und kitzelte und die sie zur Seite schob und wieder vorholte, um mit ihr zu spielen, so wie es junge Frauen tun, wenn sie verlegen sind oder träumen. Träumte sie? Nein. Sie schaute in den Himmel, um ein letztes Mal sicher zu gehen, dass Gott nicht doch rein zufällig mal Hallo sagen wollte. Dummes Kind, dachte sie, töricht zu glauben, er hätte schon Feierabend. Dann nickte sie ihrem persönlichen Assistenten zu.
Kyell wickelte die Leine los.
Er stieß das Boot ab.
Sein Puls ging schneller,
einfach so,
und er fragte sich,
ob er sie nicht retten musste,
ob das nicht die
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