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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Übernatürliches, und wäre er Zeus gewesen, so hätte er wohl flammende Zornesboten und wütende Titanen entsendet. Glücklicherweise war Linne nicht Zeus. Der Großvater sagte, Zeus sei ein Verrückter, wie alle Götter. Irgendwann steige es ihnen zu Kopf, das ganze Brimborium, das man um sie herum veranstaltet, und dann könnten sie äußerst unangenehm werden.
    Auch Tuva benahm sich wenig motivierend, ihre Körpersprache kündete unmissverständlich von Ungemach für den Fall der Fälle. Sie hatte schon im Vorgespräch recht anschaulich verdeutlicht, dass sie kein Malheur wünsche, und erklärt, dass Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili vielleicht Luzifers Albtraum sei, sie ihn aber trotzdem fern aller Grenzen liebe, und wenn er, Kyell, ein zweites Mal Mist baue, dann würde sie, Tuva, ihm den Hals umdrehen, und das nicht im metaphorischen Sinne. Da Tuva gut und gerne 130 Kilo wog, gab es keinen Grund, ihren Worten zu misstrauen. Sie runzelte die Stirn, und eine ferne Stimme des Universums sagte zu Kyell, er solle Vertrauen wecken, Zuversicht geben. Und so nahm er das Skalpell in seine rechte Hand und begutachtete es fachmännisch. Es schien einwandfrei, er konnte sich sogar in ihm spiegeln und Grimassen schneiden, wenn er denn wollte. Ihm aber war nicht nach Grimassenschneiden. Er musste handeln, Leben und Tod lagen in seinen Händen, ein sonderbares Gefühl, kein schönes, er wollte nie Gott sein.
    Es war alles desinfiziert, das Besteck, die Hände, alles. Sicherheitshalber. Obwohl es gar nicht nötig war. Katzen, so wusste er, waren hart im Nehmen. Es gab auf Gwynfaer immer noch Traditionalisten, die selbst Hand anlegten, den Kater kopfüber in einen Stiefel steckten, Narkose und Schmerzmittel als überflüssigen Schnickschnack bezeichneten und in vier Schnitten der Fruchtbarkeit ein jähes Ende setzten. In Tykwers Internationaler Tierklinik aber wurde mit Liebe zum Detail kastriert. Der Mundkeil war gelegt, die Tränenflüssigkeit getropft und die Haare im Operationsbereich gezupft. Ohne Komplikationen. Stalin hatte die Augen weiterhin auf und es schien gar so, als würde er Kyell anstarren, als wolle er ihn vor etwaigen Dummheiten warnen. Konnte das sein? Nein, unmöglich. Alle Stadien waren durchlaufen: sedativ, hypnotisch, narkotisch. Er war so weit.
    Und Kyell legte all sein Augenmerk dem Patienten zu Füßen.
    Stalin besaß zwei gar prächtige Hoden. Sein Skrotum prunkte in voller Blüte durch das Abdecktuch. Ein Rottweiler hätte sich ob der Größe im Traum nicht beschweren können. Eine Dogge vielleicht. Kyell nahm den linken der beiden Hoden in die Hand. Er setzte das Skalpell an. Er musste den Sack durchtrennen, der erste Schritt, ganz vorsichtig und ohne Hektik. Mit leichtem Druck schnitt er ein Stück abwärts.
    Sicher, er hatte davon gehört, dass ein Skalpell scharf sein soll.
    Aber so scharf?
    Der Schnitt war zu tief. Und zu lang. Es blutete. Eigentlich sollte es fast nicht bluten. Er musste noch etwas anderes getroffen haben. Er wusste nicht, was. Er nahm den Tupfer. Und tupfte. Bis er wieder sehen konnte. Er hielt den Hoden fest. Er spürte seine Wärme. Sein Leben. Abklemmen. Abbinden. Abschneiden. So stand es im Handbuch. Es war sein Job, er musste es tun. Er schob die leere Haut in Richtung Bauchhöhle zurück. Nur Samenleiter und Gefäß hielt er noch in Händen. Schön sahen sie nicht aus, beileibe nicht. Er verband beide mit einem chirurgischen Knoten. Er brauchte keinen Faden. Nein, kein Faden. Den Hoden legte er in die silberne Schale. Es klackerte dumpf. Die Keimzelle des Lebens war in ihrer Nacktheit jeglicher Anmut beraubt. Sie sah aus wie ein gigantisches Spermium voller Blutspuren. Es roch auch nicht wirklich gut. Kyell stützte sich kurz am Behandlungstisch ab, sein empfindsamer Olfaktus sträubte sich, sein Magen drehte Pirouetten, und er wusste nicht, was er dagegen tun konnte. Ein Schweißtropfen fiel in Zeitlupe von seiner Stirn und landete auf dem Abdecktuch. Für Kyells Geschmack war das alles ein wenig zu viel Blut und zu viel Hoden, ihm wurde leicht schwarz vor Augen. Er versuchte sich abzulenken und dachte an baskische Bohnensuppe, dumme Idee, und einen kurzen Moment lang glaubte er gar, er falle in Ohnmacht, aber er fiel nicht in Ohnmacht, und auch den Brechreiz hielt er unter Kontrolle. Er musste sich zusammenreißen, er war Chirurg. Er nahm den zweiten Hoden. Diesmal saß der Schnitt, kaum Blut, gleiche Prozedur, alles gut, und wieder: Klack. Großzügig verteilte

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