Gretchen
eisig frostigen Schneeverwehungen konnten es gar über 20 Minuten werden. Es machte ihm aber nie etwas aus, er ging gerne zu Fuß, seit jeher. Und so etwas wie Zuspätkommen interessierte in Gwynfaer eigentlich niemanden. Er nutzte die Zeit, um über wichtige Dinge nachzudenken. Er war in einem Alter, in dem man über wichtige Dinge nachdachte, über solch hochkomplexe Erscheinungen wie zum Beispiel Mädchen. Für ihn waren sie das größte Mysterium der Erde, noch weit größer als die Erde selbst, und ihr Wesen zu ergründen, war eine schier herkulische Aufgabe, der er sich aufopferungsvoll stellte.
Seine erste Freundin hieß Elin. Sie war acht, Kyell schon neun, aber der Altersunterschied war schnell vergessen, denn die Liebe machte auch in Gwynfaer die Menschen blind, kaum dass sie über den Gartenzaun spinksen konnten. Sie hatten sich beim Schneeballwerfen kennengelernt. Elins Wurftechnik war atemberaubend. Ihre Kopfbedeckung auch. Sie trug eine rote Wollmütze mit Bommeln, die seitlich hinunterhingen und wild umhertobten, wenn Elin sich freute und hüpfte und die Hände vor den Mund schlug.
Sie war umwerfend.
Dabei hatte Kyell den Schneeball noch kommen sehen, als er auf sein rechtes Auge zuschoss und ihn fällte wie einen Weihnachtsbaum. Von dem Moment an wusste er, dass es um ihn geschehen war. Am nächsten Tag schon gingen sie miteinander, jeder sollte es mitbekommen, ganz ohne Heimlichkeiten. Sie hatten ihre Liebe sogar schriftlich fixiert und sich Treue bis ans Lebensende geschworen und noch weit darüber hinaus. In den Pausen küssten sie sich leidenschaftlich. Sie stellten sich in einem Abstand von 1 Meter 50 gegenüber auf, verschränkten die Arme hinter dem Rücken und ließen sich nach vorne fallen, bis ihre Lippen aufeinandertrafen. Wenn das Timing nicht stimmte, und das kam des Öfteren vor, erwischten sie auch gerne Wange, Nase oder Auge des anderen. Aber genau das machte ihre Beziehung aus, das Unberechenbare, dass man nie wusste, was als Nächstes passieren würde. Die anderen Jungs aus seiner Klasse lachten über ihn, sie nannten ihn Schwuchtel, auch wenn einige gar nicht wussten, was das war, eine Schwuchtel, wie Halldór, der nie zu den Klügsten zählte und den Kyell einmal mit der Vermutung schockierte, dass die Milchstraße nicht aus Milch bestehe. Halldórs Universum fiel daraufhin in tausend Stücke und nachdem er es notdürftig wieder zusammengeklebt hatte, nannte er Kyell einen Heuchler, meinte aber Lügner. Und insgeheim bewunderten sie Kyell, denn die Liebe machte aus ihm einen strahlenden Don Juan, wie er wohl nur alle hundert Jahre einmal geboren wird.
Und so vergingen die ersten Tage mit Elin wie im Rausch, bis sie an einem Dienstag einen Kaugummi aus ihrem Mund holte, ihn in Kyells Hand legte und sagte, er solle ihn weiterkauen und ihr am nächsten Tag wieder übergeben.
Als Zeichen ihrer Verbundenheit.
Er konnte ihren Speichel am Kaugummi sehen.
Und er wusste nicht, ob sie an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit litt. Ihm ging das alles auch viel zu schnell, diese Intimität nach nur drei Tagen, ein Tempo, dem er nicht gewachsen war, das ihn ein ums andere Mal aus der Bahn warf und tiefe Schürfwunden hinterließ. Aber er wollte sie auch nicht enttäuschen. Der Großvater sagte immer, Frauen seien wie Pflanzen, in der Regel fleischfressend. Er tat ihr den Gefallen. Im Laufe der Woche aber wurde ihre Beziehung immer eintöniger, die Routine schlich sich ein, sie hatten sich kaum noch etwas zu sagen und auch die Küsse ließen die einst lodernde Leidenschaft schmerzlich vermissen. Und Kyell merkte, dass es Elin ähnlich erging. Kurz vor ihrem Zweiwöchigen ließ Elin von ihrer besten Freundin Isis einen Brief überbringen. Er steckte in einem mit Spucke verschlossenen Kuvert, auf dem rosafarbene Pferde auf grünen Wiesen tobten. Als Kyell das Kuvert öffnete, schlug ihm der Geruch von Parfum entgegen, ein Duft, wie er später sagte, den alte Menschen gerne auftragen, wenn sie zu Beerdigungen gingen. Elin schrieb:
Lieber Kyell,
vielleicht hast du gestern in der letzten Pause ja auch bemerkt, dass ich mich dir gegenüber äußerst reserviert gezeigt habe. Das hat einen Grund: Ich glaube, dass unsere Liebe keine Luft mehr hat. Ich weiß selbst nicht, wie es so weit kommen konnte. Und ich hätte nie gedacht, dass eine Trennung schlimmer ist als Zahnschmerzen. So verloren habe ich mich das letzte Mal an meinem Geburtstag vor zwei Jahren gefühlt, als ich das falsche
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