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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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ihn vermisst, die abenteuerlichen Ausflüge, die gruseligen Geschichten und die langen Gespräche. Niemand bereitete sie mehr auf das Leben vor, niemand wies sie häufiger zurecht. Und das war auch bitter nötig, das Zurechtweisen. Enfant fatale rief er sie immer, weil sie ständig in irgendwelche Räuberpistolen verstrickt war. Sie mochte es nicht, so gerufen zu werden, und sie mochte auch sein Faible für Binsenweisheiten nie. Einige davon hatte sie behalten, über die Jahrzehnte hinweg. Wie zum Beispiel: Das Erste und das Letzte, das zählt, ist nicht das Wort, ist nicht die Logik, nicht die Tugend und nicht die Moral, es ist immer nur das Gefühl, das eine, mit dem du kommst und mit dem du wieder gehen wirst. Sie fand das damals wie auch heute schmonzettig. Aber es war egal, ihr Vater durfte alles, sogar Kitsch.
    Die Bindung zu ihrer Mutter war weit weniger eng gewesen. Bindung war wohl auch das falsche Wort. Eine Übertreibung. Eine hemmungslose. Die einzige Bindung, die jemals zwischen ihnen bestand, wurde bei der Geburt zerschnitten. Sie war eine eher zurückhaltende Person, die Mutter, sehr auf Formalität und blitzblanke Umgangsformen bedacht. Gefühle versteckte sie hinter einem Gesicht aus gnadenloser Freundlichkeit. Weshalb auch niemand genau wusste, ob sie gerade auf 180 oder nur auf 20 war. Und sie konnte durchaus unangenehm werden. Die Mutter.
    Bestraft wurde immer privat. In ihrem Nähzimmer. In dem sie mit einer solchen Hingabe zuschlagen konnte, dass es beinahe eine Freude war, ihr dabei zuzuschauen, wie schwungvoll sie ausholen konnte und wie glücklich sie darüber war, etwas gefunden zu haben, in dem sie gut war, richtig gut. Ihr Tod war dann aber weit weniger schön. Erstickt ist sie. An einem Suppenklößchen. Und gezappelt soll sie haben. Ganz entgegen ihrem Naturell. Gretchen Morgenthau war nicht da, als es passierte, und dankbar für diesen Umstand. Sie wusste bis heute nicht mit letzter Gewissheit zu beantworten, ob sie geholfen oder lieber zugeschaut hätte.
    Wahrscheinlich zugeschaut.
    Und nun war es an ihr. Großes Ende. Mit dem Boot hinaus. Sie musste an Vockerat und den Müggelsee denken. Dilettant, was für ein Dilettant. Warum nicht gleich in der Badewanne ertrinken? Piefige deutsche Hausmannskost. Bei ihr, da war sie überzeugt, wird es dereinst heißen: Die alte Frau und das Meer. So geht das. Müggelsee. Pffft. Nein, es gab wahrlich keinen Grund zur Beschwerde. Sie wollte es immer dramatisch und groß, so groß es eben ging, und das hier, das war groß, mit allem Drum und Dran, pathetisch, grotesk und albern zugleich. So ging das große Spiel, so war es immer, so würde es immer sein. Bei Tschechow enden selbst Komödien für gewöhnlich tödlich, zu Recht, denn letzten Endes, dachte sie, ist das Theater doch immer nur eine Tragödie. Und die einen gehen in Stille und die anderen lieber nicht. Still genug wird es ja automatisch. Großes Glück also, in elisabethanischer Schnulzigkeit gehen zu können, wenngleich sie, bei näherer Überlegung, ein Motorboot vorgezogen hätte. Denn das Problem war, dass sie gar nicht wusste, ob sie es überhaupt aus der Bucht hinausschaffen würde. Das Wasser war ruhig und der Wind stand günstig, aber das letzte Mal war sie vor über 40 Jahren gerudert, mit ihren Mädchen, und wenn es auch nur eine einzige Sache gab, an die sie sich erinnern konnte, dann, dass es mit großer Anstrengung verbunden war. Zudem hatte ihre Vitalität und Muskelkraft im Lauf der Jahre trotz einer halben Stunde Yoga jeden Morgen erheblich nachgelassen.
    Wird schon schief gehen.
    Dachte sie.
    »Hast du wie besprochen Stift und Papier mit dabei?«
    »Ja.«
    »Nun gut, meine letzten Worte also …«
    Oh.
    Sie hatte vergessen, über ihren letzten Satz nachzudenken.
    Nicht gut.
    Sie musste improvisieren.
    Nun ja.
    Kleinigkeit.
     
    »Die Menschen haben längst verlernt, zwischen den Zeilen zu lesen, sie können nur noch hupen.«
     
    Um Himmels Willen. Bloß nicht. Sie klang ja wie ein Glückskeks für depressive Schriftsteller. Und was sollte da überhaupt zwischen den Zeilen stehen außer Nichts? »Streich das wieder.« Das ging besser. Das musste besser gehen. Wesentlich besser.
     
    »Ich hatte immer genug Selbstvertrauen, um an mir zu zweifeln.«
     
    Nein. Auch nicht. Bestimmt nicht. Ganz bestimmt nicht. »Streichen.« Es wurde immer billiger. Was war denn nur los mit ihr? Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Die Aufregung, sie schob es auf das emotionale Wirrwarr,

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