Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
endlich sterben durfte.
Georg, ungläubig, war aus der Bahn geworfen. Er fragte sich, ob seine Frau etwa die ganze Zeit tatsächlich so krank gewesen war, wie sie getan hatte. Und er hatte sie doch eigentlich so sehr geliebt.
Die Frau Rätin Goethe in Frankfurt, die ihre Tochter seit vier Jahren nicht gesehen hatte, erhielt aus Georgs Hand brieflich Nachricht von ihrem Tod. «Mit tausend Tränen: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Herr sei gelobt», schrieb sie ihrerseits daraufhin einem Freund, bleischweren, aber stabilen Herzens. Sie konnte immerhin froh sein, dass es nicht ihr Lieblingskind, ihren Wolfgang getroffen hatte. Ihr Mann allerdings, der erholte sich nicht von dem Schlag. Bald war es auch mit ihm vorbei.
Die Frau Rätin überlebte ihn bei weitem − sie war ja auch zwanzig Jahre jünger, gell! −, und irgendwann, als gerade mal nicht Napoleons oder irgendwelche anderen Truppen sie daran hinderten, verkaufte sie seine «Nacktärsche» (ihr Wort für Gemäldesammlung) und seinen ganzen anderen überflüssigen Tand, um mit ihren beiden lieben Mägden in eine Dreizimmerwohnung im Haus zum Goldenen Brunnen an der Hauptwache zu ziehen, gegenüber der Katharinenkirche. Aus ihren Fenstern hatte sie nun das ganze schöne bunte Treiben bestens im Blick. Ihr Vermieter war übrigens ein Gastwirt namens Johannes Bauer. (Ob er mit der Frau Bauerin vom Einhorn verwandt war, das kann man ihn leider nicht mehr fragen.)
Damit wäre allerdings die Familie Goethe noch nicht abschließend behandelt. Und die Susann auch nicht. Etwas Wichtiges fehlt noch.
Manche würden nämlich sagen, die Susann sei nicht umsonst gestorben. Und daran sei Wolfgang schuld.
Es passierte Anfang 1775. Wolfgang war damals sehr beschäftigt mit der süßen, brandneuen zweiten Frau von Peter Brentano, der – käsestinkende Krämerseele, die er war – nach Wolfgangs Ansicht die reizende, lebhafte junge Maxe gar nicht verdient hatte. Die Situation zwischen ihm, der Maxe Brentano und deren rechtmäßigem Ehegatten begann gerade, etwas prekär zu werden, als Ablenkung eintraf in Gestalt von Wolfgangs altem Straßburger Studienkollegen Heinrich Leopold Wagner. Wagner war auf dem Rückweg von einer verlorenen Anstellung und versuchte nun, in Frankfurt als Hauslehrer ein bisschen Geld zu verdienen. Er musste irgendwie die Gebühr für seine längst fällige Promotion zusammenkratzen, bevor auch er Anwalt werden konnte. Die alten Kameraden redeten über die Frauen und übers Dichten, und Wagner erkundigte sich, wie es denn mit dem Faust-Drama stehe.
Wolfgang musste zugeben, dass er noch immer nicht fertig sei mit dem Faustmanuskript (wiewohl es schon sehr weit gediehen war − nur war er eben noch nicht ganz zufrieden, es fehlte noch der letzte Schliff, es musste noch etwas gehoben werden). Wolfgang verriet aber Wagner, worauf er so stolz war, nämlich seine Erfindung, sein Geheimnis, woraus der Hauptteil vom Faust bestehen sollte: die «Gretchen-Katastrophe» (so nannte Wolfgang die Geschichte bei sich).
Im Leben nicht hätte Wolfgang damit gerechnet, was jetzt geschah: Wagner sagte interessiert «so, so», stellte ein paar Fragen – und schnappte sich insgeheim das brisante Thema für ein eigenes Drama.
Natürlich war er schneller: Seine «Kindermörderin» erschien 1776, da war Wolfgang noch weit von einer Veröffentlichung entfernt mit seinem Faust. Wolfgang war stinksauer, verständlicherweise.
Diese «Kindermörderin» von Wagner wurde kaum je aufgeführt, aber trotzdem außerordentlich bekannt: Es ging ja darin so furchtbar unanständig explizit und grausam und volkstümlich zu, dass man es der Damenwelt rein gar nicht zumuten konnte und sich so mancher furchtbar darüber aufregen und die Gendarmen rufen musste (Wagner fand diese Reaktionen ziemlich lächerlich und reine Heuchelei). Im gleichen Jahr schrieb ein anderer Freund Wolfgangs − einer, über den Wolfgang sich ebenfalls ärgerte, bislang allerdings nur, weil er sich auf peinliche Weise immer bei seinen, Wolfgangs, abgelegten Freundinnen und Musen einzuschmeicheln versuchte − diese lästige Klette namens Lenz also schrieb eine Erzählung, in der, wie könnte es anders sein, am Ende ein missbrauchtes Mädchen wegen Kindsmords hingerichtet wird.
Kindermörderinnen als tragische Gestalten waren das Modethema: in den folgenden Jahren zogen viele andere Dichter nach.
Zu einem guten Teil war daran die Susann schuld. Nicht allein sie natürlich – ihr
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