Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
Wahn, die Verstörtheit, bei Fausts Gretchen und in Wagners Kindermörderin ja vorgeführt bekommen.)
Wolfgang selbst wäre allerdings von diesen Spätfolgen seines «Gretchens» gar nicht begeistert gewesen. Ebenso wenig, wie er es gutheißen konnte, als 1783 sein damaliger Brötchengeber und Gönner, der Weimarer junge Herzog Carl August, anlässlich eines Kindsmords in seinem Fürstentum die Todesstrafe hierfür kippen wollte, um die Angeklagte, eine Dienstmagd, zu retten. (Zuvor schon war er in mehreren Kindsmordsfällen ein äußerst liberaler Begnadiger und Rechts-Interpretierer gewesen.)
Das nun doch nicht, fand Wolfgang, etwas zur Überraschung seines Fürsten. Das war, fand Wolfgang, zu viel Wagnis, zu viel Experiment, so radikal von althergebrachten Prinzipien abzugehen, die so einsichtig, so klar waren: Ein Leben für ein Leben. Auch wenn’s weh tat. Das war doch die beste Abschreckung.
Und Wolfgang stimmte also gegen dieses Vorhaben seines Fürsten im Geheimen Rat. Ganz wie die anderen konservativen Geheimrats-Juristen, die ursprünglich eigentlich die Nase gerümpft hatten, als ihnen dieser hergelaufene, schwärmerische Dichterling 1776 vom blutjungen Herzog ins ehrwürdige Gremium gesetzt wurde wie der Kuckuck ins Schwalbennest. Aber er machte sich ganz gut, am Ende.
Und das verrückte Reformvorhaben des Fürsten wurde auch dank seiner Stimme begraben. Und die Dienstmagd geköpft.
Es gibt aber noch etwas, das man hier aus Wolfgangs Leben erwähnen muss. Von der bekannten Tatsache abgesehen, dass er das geistige Licht und die Geldtöpfe eines absolutistischen Herzogtums den Mühen einer Karriere in der altmodischen Handels- und Handwerkerrepublik Frankfurt vorzog. Und dieses Etwas ist Christiane. Fräulein Johanna Christiana Sophia Vulpius, um genau zu sein.
Mit Ende dreißig, Anfang vierzig pflegte damals ein Mann von Wolfgangs Stand zu heiraten. Wenn nämlich die Ausbildung fertig, die große Bildungsreise gemacht und die Stellung gesichert war, sodass man also einer jungen, gut betuchten Braut und deren Eltern was anzubieten hatte. Nur hatte Wolfgang, als er sich in dieser kritischen, ehetauglichen, ja, die Ehe fordernden Zeit seines Lebens befand, das Problem, dass er mal wieder verliebt war. In die kleine Vulpius ausgerechnet, mit diesem gescheiterten unteren Beamten als Vater, der die paar Gulden Gnadenbrot seiner Pension vertrunken hatte. Die Tochter versuchte nun, ihre ganze heruntergekommene Familie als Putzmacherin durchzubringen, was natürlich hinten und vorn nicht reichte. Weshalb sie schließlich als Verzweiflungstat ein zweideutiges Bittgesuch direkt an ihn richtete, höchstpersönlich, zu einer Abendstunde, in all ihrer süßen, lockigen Schönheit. Das Mädchen war genauso, wie die meisten waren, die ihn so richtig reizten: nichts Vergeistigtes (wie seine Schwester), sondern was Einfaches, Bodenständiges (wie seine Mutter), voller Leben, Wärme und Lebensklugheit, aber eben, wie gesagt, mal wieder gänzlich ohne Geld und Ehren und seiner nunmehr geadelten Position so gar nicht angemessen. Noch weniger, als Gretchen oder Friederike früher für den Frankfurter kaiserlichen Ratssohn. Dass er eigentlich gar nicht randurfte an sie, an diese blühende, süße Christiane, das machte es leider nur noch schlimmer.
Und dann dämmerte es ihm: Er durfte ja doch. Und mehr als einmal. Weimar war nicht Frankfurt, wo die Nasen der Kleingeister voller Entsetzen hochgegangen wären, falls was rauskam. Seine Freunde hier, sein ganzer Umgang, und natürlich sein Gönner, der Fürst, waren Freidenker. Sein Vater war tot, es lebte nur noch die Mutter, die gute, die selber so volkstümlich war und leicht im Gemüt, und er, er war nicht Frankfurter Bürgermeister oder Ratsschreiber oder dergleichen. Er war der Dichterfürst. Er konnte ein kleines bisschen unvernünftig sein.
Christiane war’s auch. Oder eigentlich war sie vernünftig. Sie hatte sehr gut überlegt und befunden, dass sie es in ihrer Lage wagen könne bei ihm, nein, wagen müsse; mutig war sie sowieso, und zum Glück gefiel ihr der attraktive Herr von Goethe ausgezeichnet, um nicht zu sagen, dass sie ihn bald sehr lieb hatte, den Wolf.
Wie übrigens er sie auch.
Es kam, wie es kommen musste: Eines Tages steht sie vor ihm und sagt, sie hat sich übergeben und sie kriegt ihre Ordinaire nicht, obwohl es längst fällig wäre.
Da nahm er sie halt fest ins Haus, als Wirtschafterin offiziell. Was die Leute sich dabei dachten − sie
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