Gretchen: Ein Frankfurter Kriminalfall (German Edition)
bitte nicht. Nein, Kind, sagt der Pfarrer, für den Segen nur. Sie zittert und schwankt, als sie in die Knie gehen will, weil die Stricke um den Oberkörper sie behindern, dann zieht es, wo der Stöcker sie im Schwanken festhält. Der Pfarrer Zeitmann und ein Kandidat helfen ihr schließlich ganz hinunter, sie spürt die Hände des Pfarrers auf ihrer Haube, hört ihn den Segen sprechen, langsam: «Nimm hin den Heiligen Geist, Schutz und Schirm vor allem Argen, Stärke und Hilfe zu allem Guten von der gnädigen Hand Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes». Doch sie hat nicht die Sammlung, sich dem Segen hinzugeben, es rast alles so in ihr, beim Aufstehen wird ihr schwarz vor Augen, aber nur kurz, und dann führt sie der alte Scharfrichter an der Hand zu einer Art Stuhl. Herr Jesus, hier wird es passieren. Schon sitzt sie, dann spürt sie wieder Stricke zerren, sie wird festgebunden an dem Stuhl, die Pfarrer neben ihr, betend, ihr zuredend, sie hört es kaum noch. Herr Jesus, sie hätte gern, dass ihr jemand die Hand hält, die Hände sind leer, die Zitrone ist nicht mehr da, sie bekommt zu wenig Luft, so schnell kann sie gar nicht atmen, wie sie müsste, sie spürt einen kühlen Zug an Kopf und Hals, jemand nimmt ihr sanft die Haube herunter und zieht das Halstuch von hinten ab.
Die Geschwister Brand waren, jeder für sich, zu der Meinung gekommen, dass man die Hechtelin unmöglich allein lassen könne an diesem Morgen. Dabei hatte man sich eigentlich kaum gesehen in letzter Zeit, war sich aus dem Weg gegangen regelrecht seit August.
Aber jetzt saß die ganze Familie Brand einträchtig beisammen in der Stube des Schreinermeisters Hechtel. Zum ersten Mal seit der Verhaftung. Der Bruder Niklaus war da, die Käthe, die Ursel, allesamt gruppiert um die hochschwangere Dorette. Die Schwägerin Ännchen hockte auf einer kleinen Fußbank in der Ecke mit den Kindern und sah zu, dass die schön still waren.
Man war zwar weit, weit weg vom Gerichtsplatz hier in der Predigergass, im Südosten der Stadt. Aber man hörte es trotzdem. Den Lärm der Menge. Wie ein Volksfest. Nur die taube Dorette hörte nichts, Gott sei Dank, und es verriet ihr auch keiner, dass sie alle mit den Ohren dabei waren bei dem, was ihrer Schwester jetzt geschah.
Genau um zehn Uhr, kurz vor der Glocke, da setzte der Lärm plötzlich aus.
Cornelie hat sich längst wieder zum Schafott gedreht. Ihr ist wieder besser, außerdem kann sie ja dann die Augen zumachen, wenn es so weit ist. Glaubt sie jedenfalls. Aber plötzlich geht alles so schnell – so schnell –, der alte Hoffmann nimmt dem Mädchen die Kopfbedeckung und das Halstuch ab und tritt zurück, und da hat auch schon der bislang wie unbeteiligt ein Stück dahinter stehende Sohn weit, weit ausgeholt mit dem Schwert und trennt mit einem einzigen glatten Streich der Delinquentin den Kopf vom Körper. Und er fällt, der Kopf, er fällt.
Schwärze. Brennen. Blitze.
Und dann Aufwachen, ein Moment völliger Klarheit, in dem die Susann, verwirrt, überrascht zuerst, einen schreienden, brennenden Schmerz überall spürt und eine entsetzliche Schwäche und schließlich namenloses Grauen, weil sie von unten auf etwas blickt, weiß, aufrecht, von pumpendem Blut überströmt, das ihr eigener Körper sein muss. Dann Schwindel, das Bild schrumpft, wird immer kleiner, dreht sich, wird zu einem langen, schmalen, schwarzroten Tunnel, an dessen Ende, Gott sei Dank, helles Licht.
Cornelie hört sich selbst schreien und reißt eine Hand hoch, hält sich die Augen zu.
Dann spürt sie an ihrer Linken, die noch halb im Muff steckt, eine fremde Hand sich anschmiegen, vorsichtig, Finger, die sich langsam zwischen ihre Finger schieben. Die sie ganz sanft und liebevoll drücken. Sie blickt verstohlen auf den Muff hinunter, und es ist tatsächlich Schlosser, der ihre Hand hält und sie im Übrigen nicht ansieht, so als wäre nichts. Er liebt mich, denkt Cornelie, er liebt mich.
Und ich ihn doch eigentlich auch.
Die völlige Stille der Menge dauert nur den Bruchteil einer Sekunde. Der Ursel in der Stube des Schreinermeisters Hechtel scheint es eine Ewigkeit zu sein. Reglos sitzt sie, halb vorgebeugt, in einer Bewegung versteinert, und dann folgt der Aufschrei der fernen Zuschauer, wie aus einer Kehle. Fast gleichzeitig mit dem 10-Uhr-Geläut.
«Du liebe Zeit, du liebe Zeit», sagt die Dorette, die Augen schreckgeweitet, «jetzt ist es passiert!» Sie hat nichts gehört,
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