Gretchen
der Lage, einen Raum in aufrechter Haltung zu durchqueren.
Gretchen lächelt, als sie ihn sieht, und der Sauerstoff entweicht aus dem Raum, als hätte sie ihn geschluckt.
Archie kann sie nicht ansehen. Er wendet den Blick ab – zu dem Einwegglas, hinter dem Henry wartet –, aber jetzt sieht er sie beide zusammen gespiegelt.
Die massive Metalltür schließt sich hinter Archie und wird verriegelt. Es ist ein elektronisches Schloss, über Summer neben der Tür und ein Pult im angrenzenden Beobachtungszimmer gesteuert. Zwei bewaffnete Wachen stehen vor der Tür im Flur. Aber in diesem Raum sind nur sie beide. Das waren ihre Bedingungen.
»Ich habe dich vermisst, Liebling«, sagt sie.
Der Geruch des Raums erinnert Archie an den Keller, in dem sie ihn gefangen gehalten hat, Beton und Reinigungslösungen. »Was genau vermisst du?«, sagt er, noch heiser von dem Gift, das sie ihm eingeflößt hat. »Den Geruch meines Bluts?«
Sie faltet ihre Hände auf dem Tisch. »Ich habe deine Gefühle verletzt«, sagt sie.
Archie sieht sie benebelt an. Er hat keine Ahnung, wie er reagieren soll. »Du hast mir Abflussreiniger eingeflößt und mir die Milz herausgeschnitten«, sagt er.
Ihr sorgenvoller Blick wirkt beunruhigend echt. »Wie heilen die Narben?«, fragt sie.
Sie ist immer noch wunderschön. Selbst in dieser Umgebung, in der formlosen Gefängniskleidung, kein Make-up, reagiert sein Körper noch auf sie. Er hasst sich dafür.
»Du bist high«, sagt sie.
»Ich bin auf Schmerzmittel.« Sie hatte ihn in dem Keller mit Pillen gefüttert, hatte ihn damit belohnt, wenn er den Abflussreiniger hinuntergewürgt hatte, sie ihm in den Rachen geworfen, als er sich nicht mehr aufsetzen konnte, um sie zu schlucken.
Er nimmt sie jetzt nicht mehr wegen des Schmerzes.
Sie hebt die gefesselten Hände und gestikuliert zu dem Stuhl auf der andern Seite des Tischs. »Möchtest du dich setzen?«
Seine gebrochenen Rippen sind noch nicht verheilt, das Sitzen fällt ihm schwer. Das Baumwollhemd scheuert an den noch frischen Narben. Die herzförmige Narbe auf seiner Brust blutet manchmal noch. »Ich glaube, ich bleibe lieber stehen«, sagt er.
Sie nickt verständnisvoll. »Natürlich«, sagt sie.
Es ist warm im Raum, und Archie zerrt am Kragen seines Hemds. Er ist wegen der Opfer da. So redet er es sich selbst ein, so hat er es zu Debbie gesagt, zu Henry. Niemand hat erwartet, dass er ihrer verrückten Forderung, ihn zu treffen, nachgeben würde. Sie hätte ihn beinahe getötet. Aber er hat sich hierhergeschleppt, um bei dem Identifizierungsvorhaben behilflich zu sein, der Opfer wegen.
Die Opfer.
Es war nicht die ganze Wahrheit.
Seit ihrer Verhaftung sind zwei Monate vergangen, und er ist es leid, darauf zu warten, dass der andere Schuh herunterfällt. Sie hat niemandem von ihrer Beziehung erzählt. Er ist darauf vorbereitet, es abzustreiten. Er kann die Zeit, die sie zusammen verbracht haben, im Kontext des Falles erklären. Aber sich fragen zu müssen, warum sie nichts sagt, bringt ihn um.
»Was willst du von mir?«, fragt er Gretchen.
»Du hast die Vereinbarung mit der Anklage gelesen«, sagt sie. »Ich werde gestehen. Ich werde dir alles erzählen, von allen Leuten, die ich ermordet habe. Du kannst alle Fälle abschließen.«
»Einfach so.«
»Du wirst es dir verdienen«, sagt sie, und Archie spürt das Versprechen dieser Aussage schwer im Raum liegen.
»Warum hast du es getan?«, fragt er. Er meint nicht die Morde. Er meint die Affäre.
»Zum Spaß«, sagt sie. Er weiß nicht, welche Frage sie beantwortet.
Er lehnt sich an die Tür zurück, er fühlt sich schwach.
»Setz dich«, wiederholt sie. »Bitte.«
Er tut es diesmal, er schleppt sich zum Tisch und sinkt unter Schmerzen auf den Stuhl.
»Sei nicht traurig«, sagt sie. »Du hast mich erwischt. Du bist ein Held. Du hast genau das bekommen, was du wolltest.«
Ein Held. Er war von Anfang an manipuliert worden. Amativität. Er fragt sich, ob es überhaupt existiert.
»Nenne mir einen Fall, den du abschließen willst, einen Fall, der dir wichtig ist.«
Archie legt den Kopf zurück und schaut zur Decke. Seine Kopfhaut kribbelt von dem Vicodin. Er möchte einfach nur nach Hause gehen. Um Vergebung bitten. Es ist gut, hatte sie gesagt, als er in ihren Armen starb. Und er hatte ihr geglaubt. Er hebt den Kopf und wirft einen Blick zu dem venezianischen Spiegel. Vielleicht kommt doch etwas Gutes bei der ganzen Sache heraus.
»Isabel Reynolds«, sagt er.
In Gretchens
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