Gretchen
»Hallo?«, sagte sie.
Es war unter einem Betttuch. Vielleicht ein Möbelstück. Man deckte Möbel mit weißen Betttüchern ab, wenn man eine Weile verreiste. Reiche Leute mit Zweithäusern, in den Zwanzigern. Es war kein Möbel. Alte Kleidung? Etwas, das ein Obdachloser zurückgelassen hatte?
Es war keine alte Kleidung.
Wer war der Kerl, der sie angerufen hatte? Und warum hatte er es getan?
Ruf die Polizei, flüsterte eine Stimme in ihr.
Aber stattdessen tastete sie in ihrer Handtasche nach Notizbuch und Kugelschreiber.
Sie fuhr die Gestalt auf dem Boden mit der Taschenlampe nach. Um sie herum lagen, wie bei einer Art Opfer, acht oder zehn große, rote Taschenlampen, von denen keine brannte.
Vielleicht war es eine Art Renovierungsprojekt.
Es war kein Renovierungsprojekt.
»Okay«, sagte Susan. Sie bewegte sich zögernd vorwärts, mit einer Hand hielt sie Notizbuch und Stift umklammert, mit der andern die Lampe. »Ich werde nachsehen.« Als sie vor der bedeckten Gestalt ankam, kniete sie nieder, und die Knie ihrer Jeans drückten in etwas Feuchtes. Sie setzte sich auf die Fersen und leuchtete auf ihre Beine. Blut.
Sie sprang auf. Überall war Blut. Die Gestalt war getränkt davon. Es sammelte sich auf dem Boden, eine zähflüssige Marmelade, die im Strahl der Lampe glänzte. Sie öffnete ihre Tasche, riss ihr Kräuterspray heraus und hielt es mit dem Zeigefinger auf dem Ventil vor sich.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie mit dünnem Stimmchen.
Es war eine dumme Frage, sie wusste es im selben Moment, in dem sie es sagte. Es war unmöglich, dass jemand noch lebte, der so viel Blut verloren hatte. Schau nicht unter das Tuch. Sie konnte nicht anders. Sie musste es wissen. Sie hielt die Taschenlampe über den Kopf, um notfalls damit zuschlagen zu können, und schob mit Hilfe der Sprühdose vorsichtig das Laken beiseite.
Sie nahm sein Gesicht in einem Sekundenbruchteil auf – Augenbrauen, Aknenarben, eine schlanke Nase, rundes Gesicht und weiches Kinn, alle diese Einzelheiten ordneten sich in ihrem Geist zum Gesicht eines jungen Mannes, eines Kerls in ihrem Alter. Für einen winzigen Augenblick dachte sie, er sei in Ordnung, er würde zu lachen anfangen, alles sei nur ein dummer Streich. Er trug eine dieser lächerlichen Plastikkopfbedeckungen von Chirurgen, Herrgott noch mal, eine purpurne mit gezeichneten Elefantenkarikaturen darauf, als wäre er irgendwie verkleidet. Und seine Augen waren offen. Susan ließ den Atem, den sie angehalten hatte, in einem leisen Aufschrei entweichen. Dann war ihr Verstand zur Stelle.
Die Augen stimmten nicht. Die Lider waren viel zu weit zurückgezogen, sein regloses Starren war kaum sichtbar unter einem milchig weißen Überzug, der an einen Wasserfall denken ließ.
Susan wich mit einem Ruck zurück, und der Strahl ihrer Lampe schoss für einen Moment nach oben, über die gegenüberliegende Wand. Einen Moment lang dachte Susan, sie würde fantasieren. Sie richtete die Lampe mit zitternder Hand noch einmal hinauf. Der gelbe Lichtkreis glitt über die Wand, und Susan hätte ihn am liebsten ausgemacht, denn selbst pechschwarze Finsternis wäre besser als das.
Die Wand war weiß gestrichen. Aber sie war auch verziert worden. Jemand hatte fast jeden Quadratzentimeter mit Hunderten und Aberhunderten handgezeichneter roter Herzen bedeckt.
Mach, dass du hier wegkommst, schrie die Stimme in ihr. Aber Susan rührte sich nicht. Nie im Leben würde sie in diesen verdammten Keller zurückgehen.
Sie langte in ihre Handtasche und tastete nach dem Handy.
Sie rief erst die Zeitung an, dann die Notrufnummer.
_ 12 _
Henry stand mit Detective Martin Ngyun im Regen an dem Hang und blickte auf den lederartigen Kopf im Schlamm hinunter. Die Farne und das Gestrüpp um den Kopf herum waren verkohlt, und die ganze Umgebung war vom Schaum eines Feuerlöschers bedeckt. Henry konnte eine rußschwarze Zigarette sehen, die tief in die Erde getreten worden war.
Henry spähte nach oben. Die ganze Task Force war angerückt. Eine Busladung voll Beauty-Killer-Touristen stand oben am Hang hinter dem Absperrband und machte Fotos. Die Sache war nicht unter Verschluss zu halten. Wahrscheinlich verbreiteten sie es bereits über Twitter. »Wer hat das Feuer gelöscht?«, fragte er Ngyun.
Ngyun war seit sieben Jahren bei der Task Force. Er hatte nur ein einziges Mal eine Auszeit genommen, nämlich als es die Blazers in die Finals schafften. Und die waren nicht gut ausgegangen.
»Ein Dozent aus dem
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