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Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chelsea Cain
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Es roch vage nach Urin.
    Susan schauderte. Plötzlich erschien es ihr ganz annehmbar, über die Geburtstagsparty eines Elefanten zu berichten. Sie blickte sehnsuchtsvoll zu dem Fenster, durch das sie gerade gekommen war. Sie war schlank, aber nicht kräftig. Sie konnte sich unmöglich hinaufziehen, um aus dem Fenster zu steigen. Es blieb ihr nichts übrig, als weiterzugehen.
    Sie machte ein paar zögerliche Schritte und richtete die Taschenlampe auf die Treppe. Es gab viele Dinge, die einen in einem Haus umbringen konnten: Radon, Asbest, Formaldehyd, Kohlenmonoxid, Blei, Fiberglasisolierung. Dieses Haus war nicht gefährlicher als jedes andere.
    »Ist jemand zu Hause?«, rief sie. »Ich sammle Unterschriften.« Ihre Stimme klang hohl und nervös. »Zur Legalisierung von Marihuana?«
    Nichts.
    Sie nahm eine Bewegung wahr. Nur ganz kurz. Als sie die Lampe nach links riss, sah sie gerade noch das Hinterteil einer Ratte an einer Bierdose vorbeihuschen.
    Sie schaffte es in zwei Schritten halb die Treppe hinauf. Nicht dass sie sich vor Ratten fürchten würde, sagte sie sich – sie hatte es nur plötzlich wahnsinnig eilig. Die Treppe führte zur Küche. Da alle Fenster mit Brettern verschlagen waren, war es im Erdgeschoss dunkler als im Keller. Sie erkannte nur an dem rissigen gesprenkelten Linoleum, dass es die Küche war. Im Staub auf dem Boden waren Fußabdrücke erkennbar, Dutzende, in zufälligen Mustern, als hätte ein Handgemenge stattgefunden oder ein Square Dance.
    Es gab keine Geräte mehr in der Küche, nur leere Holzschränke und Anschlüsse für Gasleitungen, die aus der Wand ragten, wo früher ein Herd gewesen war. Im Spülbecken lagen noch mehr Bierdosen. Es gab keine Leichen.
    Susan klemmte sich die Taschenlampe in die Armbeuge und holte Notizbuch und Stift aus der Handtasche. Sie musste die Lampe unter das Kinn halten, um zu sehen, was sie schrieb, aber es gelang ihr, ein paar Notizen zu machen. Fußabdrücke. Bierdosen. Wirklich verdammt gruslig. Auch Ratte.
    Sie steckte Stift und Notizbuch weg, nahm die Lampe wieder in die Hand und folgte dem Strahl von der Küche in einen dunklen Flur zur Vorderseite des Hauses, bis sie zu einem Betttuch kam, das den Eingang zum nächsten Raum versperrte. Das Betttuch war an die Decke genagelt worden und hing wie eine behelfsmäßige Tür zum Boden. Na klasse.
    Von Ratten übertragene Krankheiten töten fast dreizehntausend Menschen im Jahr.
    Susan hörte einen weiteren Bus vorbeirumpeln.
    Sie war jetzt seltsam ruhig. Als würde sie sich selbst in einem Film sehen. Als wäre sie eins dieser Mädchen, die allein in ein Spukhaus gehen, während das Publikum die Hände vors Gesicht schlägt und kreischt, sie solle es bleiben lassen. Das Haus war leer. Sie hatte es geschafft. Sie war durch ein verfluchtes Kellerfenster gekrochen, hatte gegen eine Ratte gekämpft. Es war praktisch heldenhaft. Für diese Geschichte würde sie monatelang essen gehen können.
    Sie musste nur noch hinausfinden.
    Ihr Lampenstrahl warf einen gelben Kreis auf das Betttuch. »Hallo?«, sagte sie. Sie lauschte, auch wenn sie nicht erwartete, etwas zu hören. Dann zog sie das Laken langsam zur Seite und ging hinein.
    Das Erste, was sie bemerkte, war, dass der Raum sauber war. Nicht normal sauber. Verrückt sauber. Ihr Lampenstrahl wurde von dem geschrubbten Parkettboden reflektiert. Wände und Decken waren frisch weiß gestrichen. Es roch anders. Wie nach Desinfektionsmittel. Wie nach Krankenhaus.
    Susans Magen schlug Salti, während sie die Taschenlampe über den Raum schwenkte. Keine Möbel. Kein Staub. Keine Spinnweben. Wer immer sich hier eingenistet hatte, musste ein echter Fall von Zwangsstörung gewesen sein. Ihre Lampe schwenkte an der offenen Durchgangstür zu einem anderen Raum vorbei und hielt inne. Zwischen den beiden Räumen war eine starke, durchsichtige Plastikfolie aufgehängt worden. Susans Mutter deckte ihren Komposthaufen mit einer ähnlichen Folie ab.
    Sie vergaß, was sie tat. Sie vergaß, dass sie nach einem Weg ins Freie suchte. Sie ging mit der Taschenlampe in der Hand auf das Plastik zu, aber es war so dick, dass der Strahl der Lampe es nicht durchdrang. Susan konnte nicht auf die andere Seite sehen. Sie versuchte, die Folie wegzuziehen, aber die war besser befestigt als das Betttuch im Flur, und sie musste sich bücken und sich unten durchzwängen.
    Sie richtete sich auf und sah sich mit Hilfe der Lampe um.
    Irgendetwas war hier drin.
    Susans Magen zog sich zusammen.

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