Grim - Das Erbe des Lichts
die Klaue vor die Nase. Er hatte das Ende der Gasse erreicht, an dem neben drei überquellenden Mülltonnen ein Lager aus Kartons und Zeitungen errichtet worden war. Trotz der Kälte stank es erbärmlich nach Abfall und Ratten und dort, halb verdeckt von einer schneebedeckten Zeitung, lag ein Mensch.
Es war eine Frau, so viel konnte Grim sehen. Sie lag auf dem Bauch mit dem Gesicht nach unten und steckte in unförmiger, schmutziger Kleidung. Grim berührte sie an der Schulter und hörte das Rascheln des Zeitungspapiers, das sie sich zum Schutz gegen die Kälte in ihre Kleider gestopft hatte. Er brauchte kaum Kraft, um die Frau auf den Rücken zu drehen. Ihr Leib war so dünn, dass er kaum mehr wog als der eines Kindes. Langes, braunes Haar war ihr ins Gesicht gefallen und verdeckte ihre Züge vollständig. Grim fühlte die Anspannung der Rekruten, die neben ihm standen, und zögerte selbst einen Moment, ehe er die Klaue ausstreckte und das Haar beiseitestrich.
Mit einem Keuchen wichen die Rekruten zurück, einer presste sich mit ersticktem Laut die Hand vor den Mund. Grim spürte, wie ihn der übermächtige Drang überkam, sich abzuwenden — doch er tat es nicht. Er sah die Frau an, die in Wahrheit noch ein Mädchen war, kaum älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre vielleicht, sah ihre vor Hunger und Kälte aufgesprungenen Lippen und die zarte, bleiche Haut ihrer Wangen. Sie sah eindeutig tot aus. Grim hatte nie verstanden, wie einige Menschen behaupten konnten, die Toten würden wirken wie Schlafende. Und doch lag ein Glanz auf ihrem Gesicht, der ihre Züge weich machte, fast friedlich. Aber dort, wo ihre Augen gewesen waren, klafften zwei dunkle Höhlen, aus denen Blut geflossen war wie Tränen. Grim spürte die Dunkelheit, die sich in diesen Abgründen auf und nieder wälzte, als wäre sie ein Knäuel giftiger Schlangen. Für einen Moment meinte er, den Herzschlag des Mädchens zu hören, er spürte ihren hektischen Atem, als sie vor ihrem Mörder geflohen war, und ihre Angst, die Grim mit grausamer Stille umdrängte. Langsam flogen Schneeflocken in die Schwärze ihrer Augenhöhlen, ihm war es, als wollten sie ein Leichentuch über das Mädchen breiten.
»Herr Präsident«, sagte einer der Rekruten neben ihm. »Es war der, den wir suchen, nicht wahr?«
Grim nickte. »Ruft die Spurensicherung«, murmelte er. »Und die Spürnasen. Vielleicht ...« Er hielt inne und betrachtete die Schneeflocken, die lautlos auf das Gesicht der Toten fielen. Angespannt beugte er sich vor.
»Sie schmelzen«, sagte er leise, streckte die Klaue aus und legte einen Finger an den Hals des Mädchens. Schwach und kaum merklich strömte Wärme aus ihrem Körper.
Grim kam auf die Beine. »Schnell«, grollte er und schob die Rekruten einige Schritte zurück. »Bildet einen Schutzwall über mir und dem Mädchen für den Fall, dass Magie entweicht — wir wollen nicht die Aufmerksamkeit der Menschen auf uns ziehen. Lasst ihn nicht fallen und vor allem: Sagt keinen Ton.«
Die Rekruten nickten hektisch und formten einen Schild, der sich wie eine Blase aus zitterndem blauen Licht über Grim und dem Mädchen wölbte. Der Schnee legte sich auf den Zauber und verdampfte zischend.
Grim fiel auf die Knie, legte den Kopf der Toten in seinen Schoß und berührte mit beiden Klauen ihre Schläfen. Der menschliche Körper war mehr als die Summe seiner Teile, und auch wenn die äußere Hülle vom Tod überwältigt wurde, brauchten weniger leicht greifbare Dinge für gewöhnlich länger, um ihre lieb gewonnene Behausung zu verlassen. Die Menschen nannten solche Dinge Erinnerungen, Träume, Gedanken — alles, was das menschliche Bewusstsein ausmachte, das nun zerschlagen worden war. Grim holte tief Luft. Vielleicht würde es ihm gelingen, die Bruchstücke zusammenzusetzen — vielleicht konnte er eine Scherbe finden, die ihm die letzten Augenblicke des Mädchens zeigen würde.
Er schloss die Augen und rief die höhere Magie, die sich mit goldenen Schleiern aus Licht in seinem Körper ausbreitete. Er spürte ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen, als er den Zauber entließ, der wie ein warmer Hauch in die Kälte des reglosen Körpers der Toten vordrang und Grims Bewusstsein mit sich riss. Für einen Moment umfloss ihn kühle Dunkelheit. Er roch den sauren Duft des Verfalls wie Dunst über uralten Gräbern. Dann tauchte etwas vor ihm durch die Finsternis. Es war ein bewegtes Bild, Grim erkannte das tote Mädchen darin. Sie war etwa sieben Jahre
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