Grim - Das Erbe des Lichts
eines Mädchens mit blasser Haut und einem Gesicht, das er blind und fühllos unter Tausenden wiedererkannt hätte. Es war nicht das Gesicht der Fremden — es war Mia, die tot im Schnee lag, doch dort, wo ihre Augen gewesen waren, klafften zwei dunkle Höhlen, aus denen Blut geflossen war wie Tränen. Grim spürte die Dunkelheit, die sich in diesen Abgründen auf und nieder wälzte. Er konnte sich nicht rühren, sah wie betäubt, dass die Schneeflocken sich auf Mias Gesicht legten, als wollten sie ein Leichentuch über ihr ausbreiten, und spürte endlich den Schrei, der sich grollend einen Weg durch sein Innerstes bahnte.
Sein Brüllen zerriss den Zauber, der über ihm lag. Außer sich stürzte er sich vor — und landete der Länge nach neben seinem Bett. Schwer atmend sah er sich um.
Ein Traum.
Er hatte geträumt.
Er befand sich im Schlafraum seines Zuhauses, das Kaminfeuer war heruntergebrannt, und dort im Bett lag Mia und schlief. Grim fuhr sich über die Augen. Anders als in seinem Traum befand er sich noch in Menschengestalt und wechselte schnell in den kühlen Leib des Gargoyles. Wenn es wenigstens nur verfluchte Albträume wären und nicht erschreckende Abbilder der Realität, die seit dem Beginn der Mordserie bestand. Seit Wochen suchten Träume dieser Art ihn heim, die bis ins Detail mit der Wirklichkeit übereinstimmten — abgesehen von den Toten, die mit seinen eigenen Ängsten die Gestalt wechselten, und der Figur des Mörders. Immer wieder begegnete Grim ihm in seinen Träumen, doch niemals von Angesicht zu Angesicht und immer in einer anderen nur zu erahnenden Gestalt.
Leicht schwankend erhob er sich und setzte sich zu Mia ans Bett. Auch sie hatte in den vergangenen Wochen nicht sonderlich viel geschlafen. Müde sah sie aus und erschöpft, und wie immer überkam ihn ein Schauer aus Zärtlichkeit, jetzt, da er sie ansah. Sanft strich er ihr über die Stirn. Sollte der Mörder sich ihr auch nur nähern, würden seine eigenen Taten wie Kinderstreiche aussehen im Gegensatz zu dem, was Grim mit ihm anstellen würde.
Gerade wollte er sich auf den Weg zu seinem Turm machen, um — wie in seinem Traum — wieder einmal unruhig im Schnee auf und ab zu gehen, als ein schrilles Geräusch ihn zusammenfahren ließ. Mia zuckte zusammen, doch sie wachte nicht auf. Schnell griff Grim nach seinem Pieper und las die wenigen Zeilen. Mit finsterer Miene zog er seinen Mantel an. Die Realität hatte seinen Traum eingeholt, wie so oft in den vergangenen Tagen. Doch es war an der Zeit, diesem Albtraum ein Ende zu bereiten. Lange genug hatte der Mörder sich vor ihm versteckt. Noch in dieser Nacht würde er ihn finden.
Kapitel 2
ie Kälte flog wie ein schwarzer Flügel über Mias Gesicht und weckte sie. Noch ehe sie die Augen aufschlug, tastete sie mit der Hand über die andere Seite des Bettes, doch sie wusste schon, dass Grim nicht da war, ehe sie das kalte Laken berührte. Vermutlich hatte ein Albtraum ihn geweckt, eines dieser Schreckensbilder, die ihn seit Wochen verfolgten und nicht schlafen ließen. Müde griff sie nach ihrem Wecker und sah, dass es kurz vor Mitternacht war und sie ohnehin in wenigen Minuten aufstehen musste. Seufzend stellte sie den Wecker aus, setzte sich auf und ließ die Schwere des Schlafs von ihrem Körper rinnen wie Wasser. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, die Asche glomm im Dämmerlicht des Zimmers, als wäre sie ein gewaltiges Herz in der Finsternis. Schwach flackerten die Lichter der kleinen Elfen vor den Bleiglasfenstern und warfen ihren roten Schein gegen die Bücherregale, die an den Wänden standen.
Lautlos schlüpfte Mia in ihre Kleider, einen bodenlangen schwarzen Tüllrock und eine schlichte Bluse, zog ihren Mantel darüber und verließ das Zimmer. Fackeln erhellten den Gang neben der Kirche, die Grim vor langer Zeit unter die Erde versetzt hatte. Mia erinnerte sich noch gut daran, wie kalt es anfangs in diesen Gemäuern gewesen war, und trotz der magischen Feuer zogen noch immer geisterhafte Winde durch die Zimmer und Gänge und das mächtige Kirchenschiff. Mia berührte einen blinkenden Schalter neben einer der Türen, die zur anderen Seite von dem Gang abzweigten, und betrat die Lichtsäule des magischen Fahrstuhls, der sie sanft emporhob und auf den Turm Saint Jacques brachte.
Der heruntergetretene Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie an die Brüstung trat, und der Wind fuhr ihr eiskalt in den Nacken. Sie schaute über die Straßen von Paris, fröstelnd
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