Grim - Das Siegel des Feuers
Hoffnungen, fernab von den kühlen Gefilden der Erkenntnis, und manchmal, in samtschwarzen, einsamen Nächten, fühlte Grim eine Sehnsucht nach dieser Welt, die ihn erschreckte. Denn eines wusste er genau: Kein anständiger Gargoyle sehnte sich nach etwas, das die Menschen betraf. Meist gelang es ihm, mit der Maske der Verachtung auf die Welt der Sterblichen zu blicken, und sein Schauspiel war so überzeugend, dass er seiner Rolle selbst mehr glaubte als dem, was er unter ihr verbarg. Und doch gab es nichts, das ihn so sehr traf wie das Lachen oder Weinen eines Kindes. Manchmal schon hatte er sich gewünscht, diese kleinen Wesen festzuhalten, die Zeit einzufrieren, damit sie für immer so bleiben konnten.
Für immer.
Ein Frösteln überzog ihn bei diesen Worten.
Langsam ging er eine Weile auf und ab und hinterließ riesige Klauenabdrücke auf dem staubigen Boden. Er hörte die Ratten in den Rohren unter den Dielen. Sie begrüßten ihn, neugierig, wie sie waren. Eine Weile sprach er mit ihnen in Gedanken. Dann setzte er sich ans Fenster und schaute hinaus auf die Arena. Moosbewachsen erhoben sich die Sitzreihen im fahlen Schein der Laternen, die Bäume rauschten leise im Wind. Tagsüber spielten die Menschen hier Fußball oder Boule, Liebespaare trafen sich auf den Stufen, und manchmal kamen Touristen und machten unschlüssig ein paar Fotos von Sand und Steinen. Für die Menschen gehörte dieser Ort zu ihrer Stadt, aber sie hatten vergessen, was er eigentlich bedeutete. Dieser Platz war ein Ort der Geschichte, der Grim Ruhe vor lästigen Nervensägen garantierte. Denn kein Gargoyle kam freiwillig hierher.
Umso erstaunter war er, als er plötzlich ein vertrautes Geräusch hörte. Steinerne Schwingen in der Luft. Er schob das Fenster auf und versuchte Witterung aufzunehmen, doch der Wind schlug ihm mit eisiger Hand den Regen ins Gesicht und machte seinen Plan zunichte. Vorsichtshalber zog Grim sich in den Schatten des Hauses zurück. Ihm stand nicht der Sinn nach einem Schwätzchen und nach dummen Fragen schon gar nicht. Das Rauschen der Schwingen kam immer näher. Grim beugte sich vor und hob überrascht seine steinernen Brauen.
»Moira«, flüsterte er unhörbar.
Mit elegantem Schwingenschlag landete eine Gargoylefrau mitten in der Arena. Wie Grim selbst hatte sie auf den ersten Blick erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Menschen. Sie trug eine Toga, die sich sanft um ihre schmale Taille wand, und hatte die langen Haare kunstvoll hochgesteckt. Ihre Augen lagen dunkel und geheimnisvoll in ihrem Gesicht. Sie sah jung aus, dabei war sie der älteste Gargoyle, den Grim kannte. Doch ihre Haut war grau geworden mit der Zeit, und in ihrem Inneren wucherte die Todesrose, eine Krankheit, die vor allem sehr alte Gargoyles heimsuchte und ihre Eingeweide zerfraß, bis sie innerlich hohl waren. Grim musste Atem holen, als er daran dachte. Nicht nur einmal hatte er erlebt, wie Moira Schmerzen gelitten hatte wegen dieser Krankheit. Doch in ihren Augen funkelte die lebhafte Schwärze des Steinblutes, das auch das seine war. Wie er war auch sie vulkangeboren, und sie hatte sich seiner angenommen, damals, als er ziellos durch Italien geirrt war, hatte ihn nach Ghrogonia gebracht und ihm ein Stück Wärme gegeben mitten in dieser kalten Stadt. Seit er sie kannte, lebte sie zurückgezogen auf den Friedhöfen, mal hier, mal dort, und hielt sich aus allem heraus. Das war auch ein Grund, warum Grim sie mochte. Aber was suchte sie an diesem Platz?
Auf einmal flackerten die Laternen, dann gingen sie aus. Grim fühlte den leisen Hauch von Magie. Warum löschte Moira das Licht? Fürchtete sie, dass sie beobachtet werden könnte, von Menschen vielleicht? Grim hatte kein Problem damit, durch Regen und Dunkelheit zu sehen. Deutlich erkannte er, wie Moira in der Arena auf und ab ging. Ihre Krallen machten auf dem nassen Sand kaum ein Geräusch. Nur Grim konnte sie hören. Gerade hatte er beschlossen, sich zu erkennen zu geben, als er Schritte hörte.
Dieses Mal war es ein Mensch, der sich näherte. Alarmiert setzte Grim sich auf und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass Moira erstarrt war. Leise stieß er die Luft aus. Natürlich hatte sie die Schritte auch gehört. Jetzt betrat ein junger Mann den Platz, ungewöhnlich dünn war er, und sein helles Haar leuchtete zu Grim herauf wie ein weißes Segeltuch. Was, in aller Welt, hatte der hier zu suchen? Die Arena wurde nachts geschlossen, er musste eingebrochen sein. Aber warum? Mit angehaltenem
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