Grim - Das Siegel des Feuers
Blick von der Toten abwenden zu können. »Wir müssen von hier verschwinden!«
»Zu spät!« Die Stimme zerriss die Luft wie ein Schwerthieb. Mia und Grim fuhren herum.
In der Tür zum Saal stand ein Gargoyle. Er trug einen schwarzen Mantel, mottenzerfressen und mit verkrustetem Blut besudelt. Er hatte beide Arme gegen die Tür gelehnt, sodass er aussah wie ein Rabe kurz vor dem Sturz auf sein Opfer. Gewaltige Schwingen ragten hinter ihm auf, und seine schwarzen, von weißen Strähnen durchzogenen Haare fielen auf seine Schultern hinab. Seine helle Steinhaut spannte sich über seinem Gesicht wie bei einem Toten. Vereinzelt drangen Blutstropfen aus seinen Poren. Tiefe Falten hatten sein Gesicht durchgraben. Er blutete aus der Nase, nachlässig fuhr er sich mit dem Handrücken ins Gesicht. Unwillkürlich dachte Mia, dass sie einen Sterbenden vor sich hatten, und erwartete, dass er sie aus glasigen Wachsaugen anstieren würde — doch als er sie mit seinem Blick fixierte, wusste sie, dass sie sich irrte. Diese Augen waren schwarz wie eine Nacht ohne Sterne.
»Ihr habt euch in mein Reich begeben«, sagte ihr Gegenüber mit tiefer Stimme, »und ich entscheide, wann ihr es wieder verlassen dürft.« Er löste sich von der Tür. Lautlos ging er zu einem der Leuchter. Seine Bewegungen waren mühsam, und doch sah Mia die Kraft, die in jeder Faser seines Körpers steckte. Dieser Gargoyle musste uralt sein, das fühlte sie. Er griff nach frischen Kerzen, entzündete sie und drehte sie langsam in die Halter. »Ihr habt den Nebel durchwandert«, sagte er. »Das ist ungewöhnlich. Die meisten werden bei lebendigem Leib von den Toten gefressen, und jene, die es dennoch schaffen — nun ja, ihr habt meine Freunde bereits kennengelernt.«
Grim trat vor. »Ihr habt uns vor ihnen bewahrt.«
Überrascht hob Mia den Blick. Grim sprach mit Respekt — das hatte sie bislang selten erlebt. Nicht einmal bei der Herzogin hatte er diese Ehrfurcht in den Augen gehabt. Der Fremde antwortete nicht. Stattdessen sah er sie an. Mia fühlte, wie sein Blick über ihr Gesicht glitt. Es war, als würde er darin nach etwas suchen, vor dem er sich fürchtete.
»Seid Ihr ... Pheradin?«, fragte sie vorsichtig.
Sein Mundwinkel zuckte, dann wandte er sich ab. Er hustete keuchend, sein Körper verkrampfte sich, und als er sich ein Tuch vor den Mund presste, sah Mia, dass es sich blutig verfärbte.
»Das geschieht, wenn Gargoyles nicht mehr träumen«, flüsterte Remis an ihrem Ohr. »Sieh hin. Er ist krank. Er lebt nicht mehr — er existiert nur noch.«
Schwer atmend stützte Pheradin sich auf den Kerzenständer. Mia warf Grim einen Blick zu. Etwas wie Betroffenheit lag auf seinem Gesicht und ein Anflug von Entsetzen. Sie ließ ihre Hand in die Tasche gleiten. Das Paket fühlte sich warm an unter ihren Fingern.
»Wir haben nach Euch gesucht«, sagte sie. Sie hörte, dass ihre Stimme zitterte, aber sie konnte nichts dagegen tun. Pheradin hob den Blick, als sie das Paket aus ihrer Tasche zog. Sie hörte, wie Grim die Luft einsog. Mit weichen Knien ging sie auf Pheradin zu. »Mein Bruder ist gestorben bei dem Versuch, das hier zu beschützen. Er wurde von Magiern verfolgt, die es auf dieses Paket abgesehen hatten. Kurz vor seinem Tod hat er es mir anvertraut und mir aufgetragen, darauf achtzugeben. Es ist ein Pergament mit seltsamen Zeichen auf Fyrenisch. Aber sie verschwimmen vor meinen Augen, ich verstehe die Sprache nicht. Ich muss wissen, warum mein Bruder gestorben ist. Und Ihr seid der Einzige, der mir helfen kann.« Sie musste Luft holen, auf einmal war sie außer Atem.
Pheradin schaute auf das Paket, das sie ihm entgegenhielt, als wäre es ein gefährliches Tier, das ihn jeden Augenblick beißen konnte. Er streckte die Hand danach aus, aber seine Augen flackerten, als würde er gegen diese Bewegung ankämpfen. Schweigend schlug er das Leder zurück. Sein Blick ruhte auf dem glühenden Siegel.
»Die Freien«, flüsterte er. »Du bist eine Hartidin, nicht wahr?«
Mia nickte.
»Du kannst ihre Sprache nicht lesen, weil du noch nicht erweckt worden bist«, fuhr er fort. »Nur ein Feenkrieger könnte das tun.«
Dann streckte er die Hand nach dem Siegel aus — und verbrannte sich zischend die Finger. Erschrocken fuhr er zurück, doch gleich darauf flog ein Lächeln über seine Lippen.
»Das Siegel des Feuers«, sagte er kaum hörbar. »Es schützt sein Geheimnis.« Er sah Mia an, dann wurde sein Blick kalt. Er umfasste das Pergament mit der
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