Grim - Das Siegel des Feuers
waren Thorons Spuren, das konnte er erkennen, doch daneben ... Grim hielt den Atem an. Langsam ging er in die Hocke und strich mit dem Finger durch die Steinsplitter. Beinahe erschrocken hob er den Blick und sah Mourier an.
»Menschen«, flüsterte der Löwe, beugte sich nieder und sog den Duft des Fußabdrucks ein. Dann deutete er aus dem Saal hinaus.
Grim folgte Mourier die Treppe hinab durch düstere Räume. Schließlich gelangten sie in die Kellergewölbe. Neben dem Schwarzen Dorn hatte der Palast des Königs jahrhundertelang als Kerkeranlage gedient. Eines Tages dann, mit Abnahme der politischen Gefangenen und der Auslagerung der Gefängnisse in den Dorn, waren die Verliese geschlossen worden. Dennoch fühlte Grim sich unwohl, als er in die grabesähnliche Finsternis hinabstieg, die ihn von allen Seiten umdrängte. Ihm schien es, als griffen unsichtbare Hände nach ihm, als flüsterten Stimmen in seinem Ohr, als weine ein Kind ... Er hielt inne und lauschte angestrengt. Steinschwer senkte sich seine Hand auf Mouriers Schulter. Der Löwe horchte — dann hörte er es auch. Dort vorn in den Verliesen weinte tatsächlich ein Kind.
Grim spürte sein Blut im ganzen Körper, als er neben Mourier den Gang hinabschlich. Langsam bogen sie um die Ecke und gelangten in einen Raum mit zahlreichen Eisenkäfigen, die teils an der Decke hingen, teils im Boden verankert waren. Tausend Gedanken rasten in Grims Kopf durcheinander, doch keiner hätte das Bild umfassen können, das er nun sah. In den Käfigen saßen Menschen. Sie waren nackt und abgemagert, vielen waren in Folge von Unterernährung die Haare ausgefallen. Sie wichen zurück, als sie Grim und Mourier sahen, doch als der Löwe ein Licht entfachte, beschirmten sie die Augen mit den Händen. Sie kannten kein Licht mehr. Grim wurde eiskalt, als er begriff, dass die Kinder in den Armen der Frauen in diesen Verliesen geboren worden waren.
Fassungslos trat er näher an einen der Käfige heran. »Wer seid ihr?«, fragte er so leise wie möglich, doch die Menschen pressten sich in die hinterste Ecke des Käfigs und starrten ihn nur aus riesigen Tieraugen an. Er wandte sich Mourier zu. »Was, zur Hölle, geht hier vor?«
»Hölle ...«
Grim fuhr herum. Mourier stieß einen Laut des Schreckens aus, als Thoron in der Tür erschien. Sein Gesicht war nicht mehr als ein Totenschädel mit dunklen, faulig glänzenden Augen und einem widerwärtig grinsenden Maul. Seine Finger hatten sich in den Stein des Türrahmens gekrallt, und jetzt, da er sich von ihm löste, sah Grim das Blut, das an seinen Armen hinablief. Thoron schwankte, als er auf sie zutrat.
»Mein König«, begann Grim, doch als Thoron den Kopf hob und ihn ansah, wusste er, dass er sich seine Worte sparen konnte. Der König Ghrogonias war verschwunden. Er existierte nicht mehr — er hatte den Verstand verloren und alles, was ihn einmal ausgezeichnet hatte.
»Träume«, murmelte Thoron und deutete auf die Käfige wie ein betrunkener Dirigent. Er lachte schrill, die Menschen fuhren zusammen wie ein einziger zitternder Körper. Thoron flüsterte etwas, klackend öffnete sich eine Käfigtür. Die Menschen darin stießen Angstschreie aus, doch Thoron kümmerte sich nicht darum. Überraschend schnell stürzte er auf den Käfig zu, griff hinein und zerrte ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren heraus. Scheppernd fiel die Tür ins Schloss. Eine Frau presste sich dagegen, sie wimmerte und streckte die Hände nach dem Kind aus, das schreckensstarr in Thorons Armen hing.
Der König trug das Mädchen wie eine Puppe. Dann stellte er es ab und ging vor ihm in die Knie. Aus glasigen Augen starrte er das Kind an. »Wir müssen träumen«, sagte er langsam, als könnte er seine Zunge nicht mehr schneller bewegen. »Wir wurden um die Träume betrogen. Wir wurden um alles betrogen. Das Leben. Das Licht. Die Wärme. Es ist immer kalt hier unten. Immer kalt. Kalt.« Er sah sie an, als würde er eine Reaktion erwarten, doch das Mädchen zitterte am ganzen Leib und starrte ihn an wie ein gelähmtes Reh. Rasselnd holte er Atem und beugte sich vor.
Da riss Grim das Mädchen von ihm weg. »Seid Ihr verrückt geworden?« Die Worte brachen aus ihm hervor wie Gewehrsalven, doch Thoron sah ihn nicht einmal an. Er lachte nur, lautlos, als würde er keinen Ton mehr herausbringen. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf, sprang durch die Luft auf Grim zu und packte ihn an der Kehle. Grim keuchte, er spürte, wie Thorons Krallen sich in
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