Grim - Das Siegel des Feuers
Gedärmen der Stadt. Schimmel hatte sich in das saubere Weiß gefressen und verteilte in grün-feuchten Rinnsalen seinen Speichel auf dem Boden.
Mia holte tief Atem. Hier unten war eine andere Welt, und diese Welt sammelte das, was dort oben in der Stadt des Lichts keinen Platz mehr hatte. Es war eine schmutzige, eine harte Welt, aber sie ließ sich ihre Hässlichkeit nicht nehmen. Sie war da. Sie würde immer da sein, die Welt der Schatten — so lange, wie es die Welt des Lichts gab.
Sie erreichte den Bahnsteig, dröhnend fuhr die Metro Richtung Mairie d'Issy ein. Mia setzte sich auf einen der mit Filzstift bemalten Sitze. Die Neonleuchten über ihr flackerten, immer wieder blieben sie sekundenlang ganz aus. Eine leere Dose rollte scheppernd vor und zurück, und draußen vor dem Fenster tanzten Notbeleuchtungen in den Tunneln.
Und du bist also seine Tochter.
Seufzend betrachtete sie sich im Fenster der Metro. Sie hatte das blasse, schmale Gesicht ihrer Mutter und auch deren dunkle Haare, die ihr bis zum Kinn reichten. Aber ihre Augen ... ihre Augen waren nicht schön und blau wie die ihrer Mutter, sondern grün — beunruhigend grün sogar. Manchmal blieben die Menschen stehen, um sie anzustarren, als wäre sie ein entlaufenes Zootier.
Weil du hübsch bist,
sagte ihr Bruder immer, wenn sie ihm davon erzählte, aber sie wusste, dass das nicht alles war. Sie hatte eine besondere Begabung dafür, die kleinen Schwächen der Menschen zu durchschauen, ihre Eigenheiten und Wünsche zu erkennen, ohne dass sie mitunter mehr als einige Worte mit ihnen gewechselt hatte. Vielen Menschen machte das Angst, das wusste Mia, und nicht immer wollte sie sehen, was sie im Inneren der Menschen fand. Manchmal schien es Mia, als gäbe es eine gläserne Wand zwischen ihr und den anderen, eine Mauer, die nur sie wahrnahm und die sie unabänderlich von den Menschen trennte. Sie hatte Freunde, Menschen, die sich zur schwarzen Szene zählten wie sie selbst, und doch umgab sie ein Schleier aus Einsamkeit, den sie nicht durchbrechen konnte.
Auch deshalb liebte sie die Nacht. Deren Dunkelheit wusste, wer sie war. Mia sehnte sich nach den Geheimnissen, die sich in den Schatten verbargen, und wollte ihnen so nah kommen wie irgend möglich. Die meisten Menschen jedoch fürchteten sich vor der Finsternis, weil sie nicht wussten, was sie dort erwartete. Mia hingegen fühlte sich unendlich von ihr angezogen — aus demselben Grund. Es war ein Zauber in der Welt, den sie sich nicht erklären konnte und der nachts besonders stark für sie fühlbar wurde. Sie wünschte sich oft, anderen davon erzählen zu können, aber jedes Mal, wenn sie es versuchte, trat etwas in ihren Blick, das die Menschen verunsicherte. Es hatte auch in den Augen ihres Vaters gelegen, und die Leute hatten fast so etwas wie Angst vor ihm gehabt — grundlos und instinktiv.
Mia gähnte, und ihr war kalt. Am liebsten hätte sie sich einfach ins Bett gelegt und an nichts, an gar nichts mehr gedacht. Ja, normalerweise wäre sie sofort nach Hause gefahren.
Aber nicht heute Nacht.
Kapitel 3
ie Hagelkörner prallten die Regentropfen gegen Grims Gesicht, als er durch die Nacht flog. Das Wasser war ihm in den Nacken gelaufen, der Mantel klebte an seinem Körper, und ihm war verflucht noch mal eiskalt. Aber immerhin hatte er ein Ziel.
Unter ihm pumpte der nie versiegende Verkehr durch die Straßen, rote und goldene Adern im Geflecht der Nacht, vereinzelt dröhnte Musik aus Kneipen und Bars, doch ansonsten lag die Stadt in tiefem Schlaf. Er konnte sie spüren, die Träume der Menschen, die wie Rauchschwaden an seinen Klauen haften blieben, wenn er nah genug an ihren Fenstern vorüberflog. Ja, die Stadt schlief — aber nicht überall.
Bereits von Weitem sah er das grelle Licht der Leuchtreklamen, flackernde Herztöne im Dunkel der Nacht — das Pigalleviertel, Vergnügungsmeile der Menschen, wenn es dunkel wurde in der Stadt des Lichts. Kristallen tanzten die Lichter über Grims Haut, als er in den hellen Kegel eintauchte. Er flog tiefer, umfasste einen Flügel der roten Mühle und gab ihm kräftig Schwung. Funken sprühten, die Menschen kreischten, als sie das Feuerwerk sahen, und applaudierten begeistert. Grim lachte. Wenn die wüssten.
Er landete in einer Seitengasse auf dem Dach eines heruntergekommenen Hauses mit verschlossenen Fensterläden. Ein grauer Quader mit leuchtend roter Metalltür bildete den Treppenhausausgang. Irgendjemand hatte ein Graffiti in Form eines
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