Grim
zurückkehrte. Seufzend wandte sie sich zu den anderen um. »Das ist ein komplizierter Mechanismus. An jeder Verästelung muss ich die richtigen Formeln lösen, sonst war alles Vorherige umsonst.«
Grim strich ihr das Haar aus der Stirn. »Erinnere dich an das, was Jakob über dich gesagt hat – und dein Vater. Wenn jemand dieses Schloss brechen kann, dann bist du es.«
Mia erwiderte sein Lächeln und machte sich wieder an die Arbeit. Erneut breitete sich ihr Eiszauber über dem Riss aus, das blaue Licht flackerte über ihre Züge – und Remis fuhr heftig zusammen, als er das laute Knacken draußen vor der Krypta hörte. Mia wandte sich nicht von der Statue ab, doch ihr Zauber begann zu flackern.
»Keine Sorge«, raunte Grim und wechselte mit Lyskian einen Blick. »Ich werde nachsehen, welches Eichhörnchen es wagt, ausgerechnet jetzt mit Nüssen zu schmeißen.«
Remis zögerte. Grim konnte den Kampf zwischen Furcht und Neugier in den Koboldaugen sehen, und er lächelte, als der übliche Sieger triumphierte. Eilig schwirrte Remis auf seine Schulter, als sie aus der Krypta traten . Noch immer war es still, doch die sam tene, andächtige Ruh e, die gerade noch über den Gräbern gelegen hatte, war verschwunden. Anspannung lag in der Luft, und als Grim unter die nahestehenden Bäume trat und mit ihren Schatten verschmolz, schien es ihm, als wäre er hinter einen Vorhang getreten – auf die andere Seite der Nacht. Lautlos glitt er durch die Dunkelheit und suchte mit allen Sinnen nach der Quelle des plötzlichen Geräuschs. Remis hatte sein Licht so weit gemildert, dass es nicht von de m Flirren eines Glühwürmchens zu unterscheiden war. Überdeutlich nahm Grim das Rauschen der Blätter wahr, das Kratzen winziger Tierkrallen auf den Ästen, selbst das Schuppern der Rattenschwänze über den Gräbern, und er blieb stehen, als ganz in seiner Nähe ein Scharren an sein Ohr drang. Schnell schnappte er sich Remis und erstickte dessen Schrei. Aufgeregt nickte der Kobold in Richtung der Krypta und gab ihm zu verstehen, dass er sich eher die Zunge abbeißen würde, als einen Laut von sich zu geben. Wortlos gab Grim ihn frei und trat auf die Hecke hinter der Krypta zu, die sich wie eine Wand vor einer der Grabreihen aufbaute. Er schickte einen Bannzauber in seine Faust. Er rechnete mit einer Horde subversiver Dämonen, mit einem Schattenkobold, der ihnen einen Streich spielte, oder einem Untoten, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Doch noch ehe er die Hecke gepackt und zu Remis’ Bestürzung entwurzelt hatte, hörte er Stimmen. Rasch verfuhr er mit der armen Hecke wie geplant – und schaute in die schreckensbleichen Gesichter dreier Menschen.
Eine Frau um die vierzig in adrettem Kostüm, das ohne die Blutspritzer auf ihrer Bluse und die Schlammflecken auf ihrem Rock in jede Bankfiliale gepasst hätte, starrte ihn mit verweinten Augen an. Grim ging jede Wette ein, dass sie unter gewöhnlichen Umständen jedem armen Schlucker die Kreditlast Europas aufschwatzen konnte, aber daran war im Moment, da sie kreidebleich mit verlaufenem Make-up und zerzausten Haaren auf einem Grab hockte und zu einem schwingenbewehrten Ungeheuer aufsah, nicht zu denken. Auch der Knirps neben ihr, ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren mit Nickelbrille und roten Haaren, die ihm in flammendem Kupfer vom Kopf abstanden, hatte ohne Frage schon bessere Tage erlebt. Seine Unterlippe zitterte, als wollte er gleich in Tränen ausbrechen. Der junge Mann neben ihm war der Einzige, der offensichtlich die Fassung bewahrte. Sein raspelkurzes schwarzes Haar bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seinen hellen grauen Augen, und in seinem Blick stand etwas, das Grim die Brauen heben ließ. War es ein Lächeln?
»Oh, bitte !«, kreischte da die Frau und griff mit schmutzbesudelter Hand nach Grims Mantel. »Wir haben niemandem etwas getan, bitte , lass uns in Ruhe! Wir wollen nicht sterben!«
Sie sagte noch mehr, aber das ging in heftigem Schluchzen unter. Grim wechselte mit Remis einen Blick, der mit unverhohlenem Staunen von einem zum anderen schaute, und seufzte tief.
»Vielleicht solltet ihr es euch dann nicht ausgerechnet auf einem Grab gemütlich machen«, erwiderte Grim und achtete darauf, dass seine Stimme leise genug war, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. Umgehend hörte die Frau auf zu weinen und starrte ihn entgeistert an.
»Es spricht«, flüsterte sie, und der Junge neben ihr nickte mit angehaltenem Atem. »Habt ihr das
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