Grim
den Schatten Braskatons umgeben, spürte die sanften Hände der Totenfrau auf seiner Brust und schaute in ihre Augen, tiefschwarz und klar wie tiefe Seen. Noch nie zuvor hatte er solche Augen gesehen, sie gingen ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf, und er spürte eine rätselhafte Sehnsucht in sich, gepaart mit einem wilden, boshaften Zorn, den er sich nicht erklären konnte. Eilig drängte er beide Empfindungen zurück. Vielleicht war er doch noch nicht so gesund, wie er glaubte. Grim selbst hatte ihm gesagt, dass sein Körper nicht alles war, das nach der Berührung durch Braskaton genesen musste. Aber die Zeit heilte alle Wunden. War es nicht so?
Da sah er etwas durch die Nacht schweben, es war ein brennendes Stück Papier, das mit leisem Flüstern an Grims Turm herabglitt. Es landete direkt vor Carvens Füßen, und obwohl er es nicht aufheben wollte – irgendetwas in ihm rief ihm zu, es nicht zu tun – griff seine Hand mit der Narbe ganz automatisch danach. Er verbrannte sich nicht, als er das Papier aufhob, und kaum, dass seine Finger es berührten, erloschen die Flammen. Seine Narbe jedoch glomm kurz in dunklem Feuer auf, er erinnerte sich an die Flammenpeitsche, die sein Handgelenk in der Totenwelt der Dämonen umschlossen hatte, und an das Gesicht des Teufels, der sie geschwungen hatte. Heiter und grausam war sein Lachen gewesen, und als Carven das halb verschmorte Siegel brach und die ascheschwarze Karte mit der blutroten Schrift zu lesen begann, hörte er seine Stimme.
Grim,
Sohn eines Narren. Du bist ein außergewöhnliches Geschöpf, mein Lieber, und selbstredend hätte ich niemals erlaubt, deine Existenz zu Füßen eines Dämons enden zu sehen. Ohne mich wärest du ohne jeden Zweifel entweder tot oder in Ketten aus dieser Angelegenheit herausgekommen, sofern du dich nicht doch im letzten Augenblick selbst von den Lockungen befreit hättest. Du wirst verstehen, dass ich bei deiner Wankelmütigkeit kein Risiko eingehen konnte und selbst Vorkehrungen traf. Dies nur zu deiner Information. Gern würde ich beizeiten eine Angelegenheit mit dir persönlich besprechen. Triff mich übermorgen am Gare du Nord um – bedienen wir das Klischee – Mitternacht an der Dreizehnten Laterne. Dich wird interessieren, was ich zu sagen habe.
Eine gute Nacht wünscht dein alter Freund
K.
Carven verstand nicht das Geringste von dem, was der seltsame K. Grim sagen wollte, und es interessierte ihn auch nicht. Er hatte Grims Feuer auf dem Papier gesehen, und wenn er es verbrennen wollte, schien es nicht sonderlich wichtig zu sein. Und dennoch ließ Carven es nicht los. Mit einem Staunen, das ihm selbst merkwürdig war, betrachtete er den letzten Buchstaben, und erst, als er in roten Flammen aufging und das Papier erneut anfing zu brennen, ließ er es fallen.
Ehe das Kuvert jedoch zu Asche verkohlte, glitt etwas aus ihm heraus, es flatterte kurz in der Luft wie ein Schmetterling, und ehe es zu Boden fiel, griff Carven danach. Es war eine Spielkarte, das Pik Ass. Carven drehte die Karte zwischen den Fingern, sie war ganz gewöhnlich, nur das Schwarz war vielleicht ein wenig schattenhaft, denn es tanzte vor seinem Blick, ehe er sich über die Augen fuhr. Für einen Moment schaute er auf das Zeichen, und er musste an sein Bild mit dem Vorhang denken. Dann zuckte er die Achseln und steckte die Karte ein. Vielleicht würde sie ihm Glück bringen bei seinen Spielen.
Seufzend ging er die Treppe zum Turm hinauf und hatte gerade die Hand auf die Türklinke gelegt, als er ein Lachen hörte, ein heiteres, grausames Lachen aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen. Erschrocken wandte er sich um, denn dieses Mal hatte es kalt geklungen, schrecklich kalt und höhnisch. Doch gleich darauf war es verschwunden wie ein Traum, der zwischen Schlaf und Wachen verklingt.
FINIS
Originalausgabe Oktober 2012 bei LYX
Verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH,
Gertrudenstr. 30–36, 50667 Köln
Copyright © 2012 bei EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Andy Hahnemann
Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg
Umschlagillustration: © Max Meinzold
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-8025-8951-5
www.egmont-lyx.de
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einer gemeinnützigen Stiftung, deren Ziel es ist, die sozialen, kulturellen und gesundheitlichen Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Weitere ausführliche
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